Neue Erkenntnisse der Mobilitätsforschung

Wie und womit bewegen wir uns fort? Wie selbstverständlich ist der Griff zum Autoschlüssel? Und was bewegt Menschen, darauf zu verzichten? Seit 10 Jahren laden die kirchlichen Umweltbeauftragten österreichweit zum „Autofasten“ vor Ostern ein. Grund für das Tagungshaus Wörgl in Kooperation mit dem Verein Komm!unity, dem Haus der Begegnung und dem Umweltreferat der Erzdiözese neue Erkenntnisse der Mobilitätsforschung vorzustellen und dazu Philipp Wegerer vom Institut für strategisches Management an der Universität Innsbruck zu einem Vortrag einzuladen.

Auf großes Interesse bei der Wörgler Bevölkerung stieß das Thema leider nicht – dafür entstand unter den Anwesenden eine interessante Diskussion, ausgehend vom Vortrag des Referenten. Philipp Wegerer spezialisierte sich auf das Fachgebiet Konsum- und Kulturforschung und betrachtete  Radfahren in einem größeren Kontext zur Mobilität als nur als Freizeitbeschäftigung.

Automobilität als System und Ideologie

Sein Forschungsgebiet ging er aus zwei Blickwinkeln heraus an: Automobilität als System und als Ideologie, mit der Machtstrukturen verbunden sind. Aus dem Objekt Auto entstand im Lauf der Geschichte das System Automobilität, das sich in der räumlichen Dimension durch den Flächenaufwand ebenso auswirkt wie auf den Energieaufwand, damit zusammenhängender Institutionen wie Polizei und Versicherungen und auf die Lebensform – Stichwort Einfamilienhaus. Das Auto ermöglichte getrenntes Wohnen und Arbeiten, führt zum Auseinanderdriften der Gesellschaft. Mit dem Auto wurde ein selbstorganisiertes System erschaffen, das all unsere Lebensbereiche durchdringt.

Das Auto werde als effizient, angenehm, günstig, modern und demokratische Aktivität wahrgenommen, galt mit Aufkommen der Massenautomobilität als „Erlöser“, als Sinnbild von Freiheit und Gleichheit. Mit dem Auto kamen aber auch Regulationsmechnismen und Überwachung betreffend Autos wie auch deren FahrerInnen. Das Auto sei im modernen Lebensstil zur Normalität geworden. Radfahren wird vorwiegend als Freizeitbeschäftigung gesehen und den Regeln des Autoverkehrs unterworfen. Der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel haftet ein fragwürdiges Image an – unflexibel, passiv, fragmentiert, unsicher, gefahrvoll und für Randgruppen, die kein Auto besitzen. So wurde das Auto prägend für unseren Lebensstil und unsere Kultur und wird als komfortabler, quasi persönlicher Ort wahrgenommen, mit dem auch Statusdenken verbunden ist. „Automobilität ist eine Ideologie, die ihre Widersprüche verdeckt“, so Wegerer.

Dass sich daran langsam, aber auch unerwartet schnell etwas ändern kann, erläuterte Wegerer anhand der Eigenschaften von komplexen Systemen und Parametern, die zu ihrer Veränderung führen. „Kleine Veränderungen häufen sich und können unerwartete Konsequenzen nach sich ziehen. Systemwechsel passieren dann schlagartig und unerwartet“, wie Wegerer anhand technischer Neuerungen wie Fax oder Smartphon erklärte. Dieses Prinzip wirke auch physikalisch – etwa bei Wasser, wo der Übergang der Aggregatzustände von fest zu flüssig und gasförmig in einem ganz kleinen Temperaturbereich liegt, das System an diesen Punkten kippt.

Postmoderner Lebensstil – was ändert sich?

Das System Automobilität sei derzeit durch wirtschaftliche Verknüpfungen und Infrastruktur wie Straßen, Parkplätze etc. und die „Lock-In-Technologie privater, mit fossiler Energie betriebener Autos“ stabilisiert. Graduelle Veränderungen kommen von Konsum und Lebensstil – und hier zeichne sich eine Veränderung ab. Post-moderner, urbaner Lebensstil bringt eine Veränderung im Mobilitätsverhalten: Das Auto verschwindet als Statussymbol, wird nicht mehr als Teil der eigenen Identität verstanden. Benützen statt besitzen forciert Carsharing, moderne IT-Technologie ermöglicht einen neuen Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Dazu kommen technische Neuerungen wie E-Bikes, Lastenräder und eine Ästhetisierung der Fahrräder – das Fahrrad als Lifestyle-Produkt.

„Der postmoderne Lebensstil geht weg von sozialer Klasse, dem Besitz von Objekten, suburbanem Wohnen, regionaler Mobilität und Signalwirkung von Luxus hin zu Definition über den Lebensstil, Zugang zu Objekten, urbanem Wohnen, globale Mobilität und privat konsumiertem Luxus“, so Wegerer. Damit einher gehe mehrfacher, globaler Wohnortwechsel, regelmäßig internationale Reisen, der Bedeutungsverlust von Besitz und Autos. „Patchwork“-Mobilität sei ebenso die Folge dieses „globalen Nomadentums“ wie das Verschwinden der Bedeutung des Nationalstaates für die Wahrnehmung der eigenen Identität.

Mobilität in Wörgl

Doch wieweit kommt dieser postmoderne Lebensstil in Wörgl an? Gilt Wörgl als urban oder ist es ein ländliches Dorf? Wie wird Stadt definiert? „Suburban heißt, das Auto wird viel benötigt – urban wenig“, sieht Wegerer die Definition von Stadt, nicht in der Einwohnerzahl.

Kommt der Trend weg vom Auto auch in Wörgl an? Stadtbaumeister DI Hermann Etzelstorfer sieht derzeit eine Diskrepanz: „Autos verbrauchen mittlerweile gleich viel Platz wie kleine Wohnungen. Der Trend zu immer größeren Autos führt dazu, dass auch die Stellplätze und Wenderadien größer werden müssen.“ Autos sind mit zunehmenden Kosten für Garagen und Parkplätze verbunden. „Vom Land wurde mittlerweile schon eine Höchstzahl an Stellplätzen bei Bauvorhaben verordnet“, so Etzelstorfer. Der Trend hin zu zwei oder mehr Fahrzeugen pro Familie gehe in die falsche Richtung. Für andere Formen der Mobilität spreche zudem, dass der Mensch ein soziales Wesen sei. Und gerade die junge Generation zeige, wie´s geht – etwa mit Handy Mitfahrgelegenheiten organisieren.

„Die Technologie ist da – Mobilität wird schon jetzt anders und vernetzt wahrgenommen“, erklärt DI (FH) Peter Teuschel, der sich im Studium intensiv mit Mobilität befasst und Wörgls Verkehrsbefragung durchgeführt hat. Das Problem Wörgls sei, dass es nie aus dem Dorfcharakter herausgekommen sei. Die Ausrichtung als Einkaufsstadt ziehe Autoverkehr an, da alternative Transportwege nicht vorhanden sind. Das City-Bus-System hat seine Grenzen, in der Stadt fehlen Radwegachsen. Als Vorbild und große Ausnahme lobt Teuschel die Firma Berger Logistic, die mit Eröffnung ihres neuen Betriebsstandortes beim Wörgler Bahnhof ein völlig neues, innovatives Mobilitätskonzept ihren Beschäftigten anbietet.

Mobilitäts-Pionier Berger-Logistic

Das Unternehmen belohnt mit einem ganzen Maßnahmenpaket den Verzicht aufs eigene Auto für die Fahrt zur Arbeit. „Das Jobticket bezahlt die Firma. Sie stellt auch für Radfahrer Duschen und Umkleidemöglichkeiten zur Verfügung. Zudem gibt es Firmenautos für Mitarbeiterfahrten, etwa zum Arzt oder zu Fortbildungen“, erklären zwei Mitarbeiter des Unternehmens während der Diskussionsrunde. Und was nicht zuletzt zum Umstieg auf Rad und Öffis motiviert, ist die Stellplatzgebühr fürs Parken am Firmengelände: 35 Euro pro Monat im Freien, 70 Euro in der überdachten Parkgarage. „Derzeit ist der Mitarbeiterparkplatz nur zu einem Drittel belegt“, teilen die Berger-Mitarbeiter mit – das Anreizmodell funktioniert also.

Was noch fehlt, ist die von der Stadt zugesagte Radwegverbindung zur Firma. Wann die denn komme, wollte man wissen. Stadtbaumeister Etzelstorfer erklärte, dass die Neugestaltung der Poststraße mit dem Umbau des Bahnhofsvorplatzes verknüpft sei.

Einen weiterer Anreiz zum Radfahren sieht Peter Teuschel in überdachten Radabstellplätzen. Davon gibt es derzeit in ganz Wörgl nur einen – beim Bahnhof. Ein Problem stellt auch der private Autoverkehr beim Pflichtschulzentrum dar. 20 % der Volksschüler werden mit dem Auto zur Schule gebracht, 15 % fahren Bus, der Großteil der über 500 Kinder kommt zu fuß. 100 Autos auf einmal zu den Stoßzeiten in der Früh bilden ein Gefahrenpotential. „In Gmunden beispielsweise wurde eine 400-m-Zone rund um eine Schule eingerichtet, in der keine privaten Pkw zufahren dürfen“, wies Etzelstorfer auf Lösungsansätze andernorts hin. Wieweit Schultaschengewicht und Schulwegsicherheit Gründe für den privaten Schul-Zulieferverkehr sind oder welche Gründe Eltern dazu bewegen, wurde nicht erhoben.

Shared Space – falsch verstanden

In Wörgl fehlen nicht nur Radwegachsen, auch Fußgängerachsen. Hier ein durchgängiges Wegenetz anzulegen, scheitere oft an den Grundeigentümern, wie Etzelstorfer aus Erfahrung weiß. Durch die Tempo-30-Verordnung im Stadtgebiet sei das Anlegen von Schutzwegen nicht erforderlich, ein Rückbau bestehender sei allerdings problematisch.

„Die Segmentierung von Raum führt dazu, dass die Verkehrsteilnehmer weniger aufeinander Rücksicht nehmen, weil sie meinen, im Recht zu sein“, erklärte Wegerer und plädierte dafür, weniger zu regeln. Wo sich Autofahrer als Fremdkörper fühlen, fahren sie nicht gern und langsamer – das sei eine Frage der Straßenraumgestaltung. Dass hierzulande das Shared Space Konzept geteilter Verkehrsflächen noch nicht wirklich in den Köpfen angekommen ist, zeigt das Beispiel Kufstein: Am Fischergries wurde der Shared Space Raum nicht verstanden. Hätte man nicht Blumentröge aufgestellt, wäre er als Dauerparkplatz benützt worden.

Auto und Sicherheit

Wieweit können Ereignisse wie die Silvester-Ausschreitungen in Köln das Mobilitätsverhalten beeinflussen? Etwa das Auto als eigener Sicherheitsraum, wenn sich Frauen in der Öffentlichkeit bedroht fühlen. „Tatsache ist, dass die Gefahr tödlich zu verunglücken größer ist als auf einem Bahnhof vergewaltigt zu werden. Weltweit gibt es mehr Verkehrstote als Kriegstote“, bezieht sich Wegerer auf Fakten. Gefahrenräume würden auch konstruiert. So sei er auch ein Gegner von Frauenparkplätzen. Diese würden ebenso wie viel Polizei- und Überwachungspräsenz zur Wahrnehmung von Unsicherheit führen.

„Beim Umbau des Bahnhofes Innsbruck hat sich das aber bewährt. Das Konzept mit heller, offener Gestaltung und Security hat zu mehr Bahnkunden und weniger Übergriffen geführt, hier sind deutlich Verbesserungen eingetreten“, zeigte Peter Teuschel ein Gegenbeispiel auf.

Viele gute Gründe fürs Autofasten

„Beim Autofasten fällt mir immer der Bürgermeister von Stams Franz Gallop ein, der einmal in einem Interview erklärt hat, warum er da gern mitmacht“, teilte Stadtbaumeister Etzelstorfer abschließend mit. Geld sparen, mehr Bewegung tut gut, gehen hält fit, beim Mitfahren lernt man Leute kennen und kommt mit ihnen ins Gespräch, bekommt die Natur mit und sieht Sachen, die man sonst nicht sieht – alles Gründe, weshalb Franz Gallop das Autofasten auf ganze Jahr ausgedehnt hat  – das Interview gibt´s online auf

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