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4. Bundesfachtagung Offene Jugendarbeit in Wörgl am 29. und 30. November 2010

  

"Großeinsatz" für das Team von jugend:wörgl: Am Tagungsempfang wurde Zdenko Stevinovic von der Europäischen Freiwilligen Marta unterstützt (Bild links). Für besondere Verdienste ehrte der Verein boja im Rahmen seiner Generalversammlung am Montag vormittags Roland Marent mit der Ehrenmitgliedschaft (Bild Mitte). Marent leitete 32 Jahre das Vorarlberger Landesjugendreferat und zählt zu den Wegbereitern für Offene Jugendarbeit in ganz Österreich. Bild rechts: Lukas Trentini, boja-Vorsitzender im 1. Vereinsjahr und boja-Geschäftsführerin Sabine Liebentritt.

"gesund - na und?" - 4. Bundesweite Fachtagung Offene Jugendarbeit in Wörgl

Unter dem Begriff Offene Jugendarbeit versammelt sich eine breite Palette von Angeboten für Jugendliche, die von Jugendtreffs über Projekte bis hin zu mobiler Jugendarbeit reicht. Die 2009 als Verein gegründete Vernetzungsplattform boja arbeitet als bundesweites Netzwerk für Offene Jugendarbeit ganz gezielt an der Weiterentwicklung der Jugendarbeit durch Weiterbildung, Lobbying für jugendrelevante Themen und macht Qualität in der Jugendarbeit sichtbar. Durch Vernetzung voneinander zu lernen ist dabei ebenso gefragt wie Wissensvermittlung durch Experten.

Unter dem Motto "gesund - na und? Wie, wo und weshalb hat das Thema Gesundheit in der Offenen Jugendarbeit Platz?" lud die boja in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend sowie der Tiroler Plattform für Offene Jugendarbeit POJAT zur 4. bundesweiten Fachtagung in Wörgl. "Durch die Arbeit der POJAT ist in Tirol ein Bewusstsein für den Wert Offener Jugendarbeit und einheitliche Förderrichtlinien entstanden", betonte Reinhard Macht vom Jugendreferat des Landes Tirol bei der Eröffnung und wünscht sich, dass Offene Jugendarbeit in 20 Jahren denselben Stellenwert hat wie andere pädagogische Berufe in Kindergärten und Schulen.

   

Sonderapplaus für Wörgls Jugendkoordinator Klaus Ritzer und das gesamte Organisationsteam mit boja-GF Sabine Liebentritt,  boja-Koordinatorin Christa Fürchtegott und den beiden Europäischen Freiwilligen Marta und Ilva (Bild links v.l.). Wörgls Bürgermeisterin Hedi Wechner begrüßte die Teilnehmer im Namen der Stadt Wörgl. So kreativ wie die Offene Jugendarbeit selbst war übrigens auch die Tagungsorganisation - das reichte von den Tagungsunterlagen mit Jausenpaket und "Bücher-Tauschbörse" bis zum "Qualitätsmonitoring" durch fünf Jugendliche (Bild rechts) und die Dokumentation durch ein Journalisten-Team von Freirad Innsbruck.

Prof. Dr. Peter Filzmaier: "Viele Klischees über Jugendliche und Jugendarbeit sind falsch"

Medial verbreitete öffentliche Meinungen und Vorurteile über Jugendliche und Jugendarbeit nahm der Politikwissenschaftler Univ.-Prof. Dr. Peter Filzmaier unter die Lupe und präsentierte dazu wissenschaftlich Fundiertes - die Daten des Jugendmonitorings, das alljährlich von der Donau-Universität Krems im Auftrag des Bundesministeriums durchgeführt wird. Dabei werden 3.000 bis 4.000 Interviews mit Jugendlichen geführt.

"Vier Fünftel der Jugendlichen blicken optimistisch in die Zukunft. Kischees einer no-future-generation sind falsch", erklärte Filzmaier. Zwei Drittel der Jugendlichen haben konkrete Berufswünsche - je niedriger der Bildungsgrad, umso undefinierter sind diese. Dabei falle im internationalen Vergleich auf, dass Österreichs Jugend schnell erreichbare und nah am Wohnort liegende Arbeitsplätze bevorzuge und wenig mobil sei.

Die Jugend sei nicht mehr und nicht weniger politikverdrossen als Erwachsene und bemerke verlogene Kommunikation seitens der Politik sehr wohl. Gefragt wird auch, wie zufrieden Jugendliche mit ihrer Mitbestimmung sind: "6 % sagen, sie können nichts bewirken. Ein Viertel glaubt, dass sie wenig bewirken und zwei Drittel empfinden ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten als passend. 35.000 Jugendliche sind damit deklarierte Demokratiefeinde, 175.000 sind unzufrieden, latent frustriert und damit gewinnbar für politische Rattenfänger.  Der Studie zufolge deklarieren sich 5 % als rassistisch und 25 % haben Angst vor Ausländern", erklärte Filzmaier und begründete damit die Notwendigkeit politischer Bildung, nicht nur an höheren Schulen: "Politische Bildung soll nicht nur auf Elite-Ebene passieren, sondern auch in Jugendgefängnissen."

Wobei politische Bildung nicht mit Propaganda verwechselt werden dürfe. Richtige politische Bildung beinhalte Wissensvermittlung, eigenständige Meinungsbildung, Stärkung sozialer Kompetenz und politische Beteiligung. Politische Bildung sieht Filzmaier auch als Herausforderung für die Offene Jugendarbeit. Funktionierende Beispiele aus Praxis dazu sind etwa die Demokratiewerkstatt im Parlament für 8 bis 14jährige oder das Internet-Angebot www.politikkabine.at

    

Interessante fachliche Impulse lieferten Peter Filzmaier, Klaus Vavrik und Andreas Klocke (v.l.)

Gesundheitsförderung und Jugendmedizin

"Österreich liegt in den Bereichen Gesundheit und Risikoverhalten von Kindern und Jugendlichen im Vergleich der europäischen Staaten an allerletzter Stelle! Subjektiv empfinden die Österreicher, dass sie an 4. Stelle liegen", leitete Primar Dr. Klaus Vavrik, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde (www.kinderjugendgesundheit.at) seinen Vortrag über Gesundheitsförderung und Jugendmedizin ein.

"Die Entwicklungsrisiken und Krankheitsbilder von Kindern und Jugendlichen haben sich in den letzten Jahrzehnten fundamental verändert", so Vavrik. Heute sind nicht mehr Mangel- und Infektionskrankheiten das Problem, sondern Lebensstilerkrankungen durch Ernährungsfehler, Bewegungsmangel und Risikoverhalten. Chronische Entwicklungsstörungen nehmen ebenso zu wie psychosoziale Erkrankungen.

Alarmierende Fakten

Der Facharzt zitierte Daten aus der OECD-UNICEF-Erhebung 2009/2010: "27 % der 15-jährigen rauchen regelmäßig, 30 % zwischen 13 und 15 waren zumindest 2 x betrunken. Mit 25 % haben Österreichs 15jährige die höchste Gewalterfahrungsrate in Europa! 20 % der Jugendlichen leiden an Übergewicht oder Essstörungen. 17,5 % haben eine vom Arzt bestätigte chronische Erkrankung oder Behinderung. 30 % der Mädchen klagen über allgemein schlechtes Befinden und 90.000 Kinder leben in manifester Armut."

"Es gibt in den Umfragen einen deutlichen Trend hin zu Werten wie Freundschaft, feste Partnerschaft und Familie", berichtet Vavrik,  Mitglied der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit  weiter. Aber: "60 % der elf- bis 18jährigen haben Sexseiten im Internet angesehen, was bis zum täglichen Konsum geht. 16 % haben bereits illegale Gewaltpornographie, Sodomie und Kinderpornographie angesehen. Je öfter Jugendliche Pornographie im Internet sehen, umso mehr halten sie diese für realistisch und sind unzufrieden mit ihrer eigenen Sexualität. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Pornographiekonsum und Gewaltakzeptanz."

Als konkretes Gefährdungspotenzial für Jugendliche sieht Vavrik auch die Spiel- und Mediensucht: "15,8 % der 15jährigen Buschen und 4,3 % der Mädchen verbringen täglich mehr als viereinhalb Stunden mit PC-Spielen. 7,7 % der Burschen und 0,8 % der Mädchen wurden als abhängig oder gefährdet diagnostiziert". Die Folge seien unterdurchschnittliche schulische Leistungen, Bewegungsmangel, überwiegend medienorientierte Sozialkontakte bis hin zur virtuellen Einsiedelei. "In Japan verlassen bereits 12 % der 15jährigen die Wohnung nicht mehr", zeigte Vavrik auf, der die Ursache für die Fehlentwicklungen in der Vorbildwirkung der Erwachsenen sieht. Der gesellschaftliche Wandel gehe zu schnell für unsere biologische Anpassung. Vavriks Fazit: "Das Gefährdungspotenzial der österreichischen Jugend zeigt zunehmende Belastungen. Burschen sind derzeit deutlich stärker betroffen, zeigen weniger Lebenskompetenz und schlechtere Bildungsdaten."

"Erziehung muss ausgewogen beiden kindlichen Bedürfnissen nach emotionaler Sicherheit und Bindung einerseits und jenem nach Selbständigkeit und Autonomie gerecht werden. Unterstützungssysteme wie Herkunftsfamilien und Nachbarschaftsgemeinschaften erfüllen diese Aufgabe häufig nicht mehr. Dazu sind Armut, Isolation, persönliche oder partnerschaftliche Belastungen der Eltern hohe Risikofaktoren", so Vavrik, der auf die Wichtigkeit früher Hilfe zur Vermeidung von Langzeitschäden und damit Kosten für das Sozial- und Gesundheitssystem sowie auf das Defizit entsprechender Angebote hinwies: "Kinder und Jugendliche stellen 20 % der Bevölkerung und erhalten nur 7 % der Gesundheitsleistungen."

Zu den wirksamen Hilfen zählt Vavrik auch die Offene Jugendarbeit: "Offene Jugendarbeit ist per se gesundheitsfördernd, wenn sie niederschwellig und nicht selektiv ist, die Potentialentfaltung unterstützt, Gemeinschaft fördert und begleitet, achtsam und offen auch für junge Menschen in Not ist und integrativ und belastbar ist."

Soziale Ungleichheit wirkt sich enorm auf die Gesundheit aus

Wie Gesundheit und soziale Ungleichheit zusammenhängen, zeigte Prof. Dr. Andreas Klocke aus Frankfurt auf. Klocke bezog sich bei der Analyse des Zusammenhanges auf Daben der internationalen WHO-Studie, die alle vier Jahre in 36 Ländern in Form von Schülerbefragungen durchgeführt wird. Dabei werden Indikatoren sozialer Ungleichheit, sozialen Kapitals, des Gesundheitsverhaltens und gesundheitlicher Beschwerden auf ihre Zusammenhänge untersucht. Daraus geht klar hervor, dass Kinder mit mehr "sozialem Kapital" auch gesünder sind. Dieses "soziale Kapital" setzt sich aus guten nachbarschaftlichen Beziehungen, Einbindung in Schule, Vereine und Organisationen sowie die Qualität der Beziehung zu Eltern und Freunden zusammen. Je besser dieses soziale Umfeld intakt ist, umso besser ist das Gesundheitsverhalten der Kinder und Jugendlichen in Bezug auf Zahnhygiene, TV-Konsum, Bewegung, Ernährung und Suchtverhalten.

Gute Praxis-Beispiele aus der Offenen Jugendarbeit in Österreich

Womit die Offene Jugendarbeit jetzt schon zur Gesundheit junger Menschen beitragen kann, zeigte sich beim anschließenden World-Café, bei dem Best-practice-Beispiele aus ganz Österreich vorgestellt wurden. Darunter war u.a. das "Lifestyle - style your life" Präventionsprojekt aus Kärnten, "Schlagkräftig mit Verstand - Gewaltprävention im Bregenzerwald" sowie mit "Taktisch Klug"-Eventbegleitung ein weiteres Vorarlberger Projekt. Die Salzburger stellten ein Projekt zu Trendsportarten am Rand vor, die Steirer eines zur Mädchengesundheit. Tirol präsentierte die Gesundheitswochen im Jugendzentrum Blaike und Wien ein Mädchen-Bewegungs-Projekt sowie das Kochprojekt "Pimp your Bratnudel". Zwei Worldcafé-Tische befassten sich mit den bundesweiten Themen Kinder-Gesundheitsdialog und der Frage, was Offene Jugendarbeit zur Jugendgesundheit leisten kann.

Der erste Tagungstag endete mit einer Podiumsdiskussion und einem gemeinsamen Abendprogramm mit Vernetzungsfest im Komma. Am Dienstag referierte Gerald Koller über Gesundheitsförderung und Offene Jugendarbeit und Elisabeth Unterweger über Burn-Out-Prophylaxe und Psychische Gesundheit in der Offenen Jugendarbeit. Eintauchen in die Praxis boten danach neun Workshops zu den Themen Burn-Out-Prophylaxe, "Echt-Fett - Rausch und Risiko", sexuelle Gesundheit und Sexualpädagogik, Suchtprävention, Psychische Gesundheit im Teenager-Alter, Ernährung und Essstörungen, Qualitätssicherung in der Offenen Jugendarbeit, Angebote der Offenen Jugendarbeit zur Gesundheitsförderung sowie Vernetzung. 

   

Viele Anregungen und Ideen aus praktizierten Projekten konnten sich die TeilnehmerInnen beim World-Café holen.

Weitere Bilder vom 1. Tag der boja-Fachtagung gibt´s hier in der Galerie

und Informationen zur boja auf www.boja.at