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Freunde zeitgenössischer Kunst luden zur Gedenkfeier in den Skulpturenpark Kramsach |
vero / 23.05.2011 17:04
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Erinnern, um für heute zu lernen - im Bild links: Alois Schild, Horst Schreiber, Fritz Entner und Komponist Andreas Reiter.
61 Namen stehen auf dem „Steckenpferd des Diktators“, das der Kramsacher Bildhauer Alois Schild in Erinnerung an die aus Kramsach abtransportierten Opfer errichtet und 2003 im Skulpturenpark aufgestellt hat. 61 Kinder und Jugendliche, die gegen ihren Willen von SS-Männern abgeholt und im Schloss Hartheim ermordet wurden. Welche Rolle spielte in diesem dunklen Kapitel Tiroler Geschichte die Bevölkerung? Mit dem Finger auf „Dorfnazis“ zu zeigen ist dem Tiroler Historiker und Buchautor Horst Schreiber zu wenig. „Es geht um die persönliche Verantwortung jedes einzelnen.“ Die Bevölkerung könne weder im Negativen noch im Positiven entlastet werden. Erst auf das Drängen von unten und durch Überpflichterfüllung wurden die Vernichtung von Menschen als „Maßnahme zur Ausmerze von Geisteskrankheiten“ in diesem Ausmaß möglich – und auf Druck von Bevölkerung und Kirche, die sonst moralisch versagt habe, sei von Hitler selbst das Euthanasieprogramm 1941 gestoppt worden.
70.000 Menschen seien in den sechs Tötungsanstalten des NS-Regimes im Euthanasieprogramm bis 1941 durch Injektionen ermordert worden. Eine hocheffiziente Tötungsmaschinerie nach modernen Methoden, in der es in erster Linie um wirtschaftliche Gesichtspunkte und Produktivität ging – wer keine Leistung für die Gesellschaft erbringt, wurde „ausgemerzt“. Und hier sieht Schreiber auch die Bedeutung von Erinnerungsarbeit heute: „Die Vernichtung dieser Menschen war eine klare Kosten-Nutzen-Rechnung. In Zeiten neoliberalen Denkens ist Produktivität ein modernes Thema.“
Dass die Aufarbeitung der NS-Euthanasie bis in die 1990er Jahre ein Tabu blieb, sieht Schreiber im Umstand begründet, dass es nach der NS-Zeit fast keine personellen Änderungen in der Medizin, Fürsorge, Pflege und Verwaltung gegeben habe. Kein Bruch gegeben, nur einzelne seien bei Prozessen zur Verantwortung gezogen worden, die biologistische Sichtweise sei vielfach die gleiche geblieben.
Die späte Aufarbeitung mache Erinnerungsarbeit schwierig: „Der Mensch lernt nicht aus abstrakten Zahlen. Ein Name mit rekonstruiertem Lebenslauf bewegt viel mehr, zur Erinnerung braucht es Menschen“, so Schreiber. Was heute bei betroffenen Familien aus Angst vor Stigmatisierung widersprüchlich aufgenommen wird. Vor diesem Hintergrund stuft Schreiber das Monument für die ermordeten Kinder im Skulpturenpark als „extrem wichtig“ ein und dankte dem Künstler wie dem Verein für die geleistete Erinnerungsarbeit. Kramsach werde in den nächsten 10 Jahren noch Gegenstand der zeitgeschichtlichen Forschung, kündigte Schreiber an.
Eine neue Ära brach 1971 mit der Gründung der Landessonderschule an. „Heute ist Mariathal ein Ort des Angenommenseins, der Wertschätzung und Verschiedenheit“, betonte Fritz Entner, ehemaliger Direktor und bedankte sich ebenfalls beim Kunstverein für die geleistete Gedenkarbeit.
„Nichts kann uns als Gesellschaft besser vor Augen führen, wohin die alleinige Ausrichtung nach Technik und Naturwissenschaft führen kann als die Geschichte der Euthanasieopfer“, erklärte Dr. Michael Geiger, ehemaliger Kunstvereinsobmann und betonte, wie „wichtig eine geisteswissenschaftliche, humanistische Erziehung ist. Die betrifft das unmittelbare Leben mehr als jede medizinische Spezialwissenschaft.“ Die Feier im Skulpturenpark endete mit der Gedenkkomposition von Andreas Reiter, die er selbst mit der Posaune vortrug.
Weiterführende Literatur von Horst Schreiber: http://horstschreiber.at/texte/czermak-und-die-nseuthanasie-in-tirol