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Podiumsdiskussion "Mitbestimmung und Gleichberechtigung statt Integration" am 24. Oktober 2011 in Wörgl

 

  

Großes Publikumsinteresse bei der Podiumsdiskussion im Tagungshaus Wörgl mit Oscar Thomas-Olalde, Moderatorin Elisabeth Wiesmüller, Alev Korun und Orhan Gürcan (Bild Mitte von links).

Zur Podiumsdiskussion über Anspruch und Wirklichkeit in der Integrationsdebatte mit Alev Korun, Sprecherin für Integration, Migration und Menschenrechte und Grüne Abgeordnete zum Nationalrat, Oscar Thomas-Olalde, Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaften, mit den Schwerpunkten Migration und Bildung sowie Orhan Gürcan, Aktivist im Verein ATIGF luden am 24. Oktober 2011 die Grüne Bildungswerkstatt Tirol,  die Grüne Bildungswerkstatt Minderheiten, die Wörgler Grünen, das Tagungshaus Wörgl und der Verein ATIGF.

"Gehöre ich dazu? Das ist die wesentliche Frage", leitete Moderatorin Elisabeth Wiesmüller, Landtagsabgeordnete der Tiroler Grünen, nach der Begrüßung durch Tagungshausmitarbeiterin Dipl.-Päd. Claudia Gottinger die Podiumsrunde ein und verwies auf die Unterschriftenaktion des Netzwerks kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, auf die hin eine Debatte über das Zusammenleben entbrannt sei. Wiesmüller zitierte provokative Aussagen der Initiative - man solle aufhören von Integration zu reden. Integration sei die "Feindin der Demokratie". Das Problem seien nicht Arme und Migranten, sondern die Politik, die diese Zustände schafft und ausgrenzt, sich über Ausgrenzung definiere.

Alev Korun ging in ihrem auf deutsch und türkisch vorgetragenen Statement auf die Geschichte der Gastarbeiter ein und kritisierte, dass sich die Politik viel zu spät um diese Menschen gekümmert und dann eine problematische Aufenthaltsgesetzgebung geschaffen habe. Aufgrund der rechtlichen Lage sei so ein Teil der Bevölkerung von der Mitbestimmung abgeschnitten. Korun kritisierte auch die Absicht, Deutschprüfungen verpflichtend für die Zuweisung von Sozialwohnungen einzuführen, die in Kärnten nun gesetzlich verankert werden soll.

Wahlrecht nach 3 Jahren Aufenthalt

Den Vorwurf, rassistische Politik zu betreiben, erhob Orhan Gürcan von ATIGF. Die Organisation stellte er als Dachverband mehrerer österreichischer Vereine und Jugendorganisationen vor. Man arbeite für politische Rechte von Migranten, der Gleichstellung von Mann und Frau und der Wahrung der Menschenrechte. "Bei 100.000 Einwohnern im Bezirk Kufstein sind 12 % Migranten", erklärte Gürcan und kritisierte, dass "immer wieder von Integration geredet wird, aber eine Assimilation der Menschen gewollt wird." Bei gleicher Leistung werde man unterschiedlich behandelt. Gürcan kritisierte die Verknüpfung des Aufenthaltsrechtes mit Deutschkenntnissen, die Prüfungen seien zu schwer. Seiner Meinung nach werden Vorurteile von der Politik aufgebaut. "In Tirol gibt es keine Anstellung im öffentlichen Dienst ohne Staatsbürgerschaft. Wir wollen das aktive und passive Wahlrecht nach 3 Jahren Aufenthalt", so Gürcan. Wenn nicht, sei das "nicht demokratisch und Staatsrassismus". Gürcan verwies auf Übergriffe auf Migranten wie den Brandanschlag auf ATIB in Kufstein und forderte ein Verbot "rassistischer, faschistischer Parteien".

Ob das Wort statt im Titel der Veranstaltung - Mitbestimmung und Gleichberechtigung statt Integration - berechtigt sei, fragte Elisabeth Wiesmüller den aus Mexiko stammenden Oscar Thomas-Olalde. "Statt ist schon richtig - nicht weil Integration falsch ist, sie ist gut. Aber Integration ist ein schwieriger, beladener Begriff. Zu lange wurde er falsch verwendet. Integration betrifft nicht nur die Zugewanderten, sondern die gesamte Gesellschaft", so Thomas-Olalde. Integration werde kulturell definiert - Tatsache sei allerdings, dass wir schon iner multikulturellen Gesellschaft leben: "Was wäre die Alternative? Ethnische Säuberung und Massendeportationen?"

Thomas-Olalde wies auf die Bewegung "Ausschluß basta" hin, die Demokratie statt Integration und damit demokratisches Verständnis fordere. Die "Ausländer" seien als Kollektiv erschaffen worden, auch die Meinung, dass Mehrsprachigkeit schwäche. Diese Annahmen seien falsch, vom System her rassistisch: "Alle Menschen sind Teil der Bevölkerung - es gibt keine Nicht-Bevölkerung", wofür Thomas-Olalde spontan Publikumsapplaus erntete. "Was, wenn jemand nicht deutsch spricht. Was dann? Sind wir für Demokratie oder nicht? Wir können nicht einen Teil der Menschen zur Nicht-Bevölkerung erklären. Was bedeutet dieser ominöse Migrationshintergrund. Diese Quasi-Nicht-Bevölkerung ist in Wien 40 %."

"Wann werde ich endlich aufhören, ein Migrant zu sein?"

Wer gilt als Migrant? Von welcher Gruppe spricht man im Integrations-Diskurs? Allein hier werde es schon schwierig. Und im täglichen Leben passieren Diskriminierungen aufgrund der Herkunft bei Wohnungs- und Jobsuche, unabhängig von der Staatsbürgerschaft - das sei institutioneller Rassismus.

Zum "ominösen Migrationshintergrund" meldete sich Alev Korun: "Vor lauter Hintergrund sieht man heute nicht mehr, was im Vordergrund steht." Es komme nicht auf die Herkunft an, und wer in Österreich als Migrant eingestuft wird, sei sogar von Bundesland zu Bundesland verschieden: "In der Österreich-Statistik gilt als Migrant, wenn beide Eltern im Ausland geboren sind oder eine andere Staatsbürgerschaft haben, in Wien bei nur einem Elternteil."

"Ich kam mit 19 Jahren nach Österreich, lebe jetzt 21 Jahre hier, habe die Staatsbürgerschaft und werde als Migrantin definiert. Wann werde ich endlich aufhören, Migrantin zu sein?" fragte Korun und sprach damit eine Erfahrung aus, die viele im Publikum teilen, diese bestätigten.

Mitbestimmung - hier liegt das Defizit

"Wir haben ein Demokratie-Defizit in Österreich - Menschen dürfen bei Gesetzen und Bestimmungen, die sie betreffen, nicht mitentscheiden. Das ist das eigentliche Problem, nicht die Migration", erklärte Thomas-Olalde und brachte das Konzept der "Wohn-Bürgerschaft" ein, das von Experten erarbeitet worden sei und vorsehe, dass Menschen ab einem Aufenthalt von 3 Jahren auf kommunaler Ebene mitbestimmen können. Sprache gehöre zur Integration, aber es sollten unterschiedliche Sprach-Niveaus bei der Beurteilung berücksichtigt werden: "Die Fixierung auf Matura-Niveau ist falsch." Die Gesellschaft könne von der Mehrsprachigkeit profitieren. Wichtig sei vor allem der Zugang zu Bildung.

"Über den abstrakten Integrationsbegriff werden Arme gegen Arme ausgespielt - das ist das Traurige", erklärte Oscar Thomas-Olalde und erntete dafür den zweiten Saal-Applaus des Abends.

"Wer ist mündig genug zur Mitbestimmung?" - diese Frage tauchte in der Diskussion im Saal auf. Mitbestimmung animiere zur Anteilnahme, stellte Alev Korun fest, die das Wahlrecht vom Reisepass abkoppeln will und auf eine diesbezügliche Initiative im Wiener Gemeinderat hinwies, wo der Gemeinderat ein kommunales Wahlrecht auf Bezirksebene beschlossen habe. Das wurde vom Verfassungsgerichtshof abgelehnt, worauf die Grünen eine Verfassungsänderungsantrag stellten. Die Sache liegt seit Jänner 2010 im Verfassungsausschuss.

 

Demokratie und Kapitalismus...

Weitere Diskussionspunkte des Abends waren, dass weder Migranten noch Einheimische homogene Gruppen sind, sowie persönliche Erfahrungen im Zusammenleben. Auf den Punkt brachte es am Ende die Wortmeldung eines Innsbrucker Teilnehmers: "Unsere Demokratie ist auf bürgerlichen Kapitalismus aufgebaut. Wenn wir von Mitbestimmung reden - Mitbestimmung über was? Es braucht Kritik am Kapitalismus. Wer Geld hat, hat die Macht. Wir haben erst gleiche Rechte, wenn wir über die Wohlstandsverteilung mitbestimmen können. Das heißt die Frage nach Eigentum und Besitz zu stellen."