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Renner Institut und Initiative für politische Bildung laden zum Vortrag mit Diskussion zum Thema Gesamtschule
Univ. Prof. Dr. Rupert Vierlinger war von 1967 bis 1980 Gründungsdirektor an der Pädagogischen Akademie der Diözese Linz und anschließend bis 1997 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Passau. Er ist ein leidenschaftlicher Verfechter der “echten” Gesamtschule und hat zahlreiche Publikationen dazu verfasst. Wir haben mit ihm darüber gesprochen.
Welches sind die wichtigsten Charakteristika dieser „echten“ Gesamtschule?
 

 

Rupert Vierlinger: Die Selektion der Zehnjährigen auf niveauverschiedene Schultypen fällt weg. Die Schüler der Sekundarstufe I (10 – 14-Jährige) bleiben so heterogen beisammen, wie sie es in der Volksschule gewesen sind. Im Gegensatz zur „falschen“ Ge­samtschule, der sog. Integrierten Gesamtschule (IGS), dem Schulversuchsmodell der 70er Jahre und Vorläufer der „Neuen Haupt­schule“ (vgl. SchOG-Novelle von 1982), gibt es auch keine fachspezifische äußere Differenzierung, wie es die Leistungsgruppen in Deutsch, Mathematik und Englisch sind. Die unbesonnenen Vergleiche der GS-Gegner mit den deutschen „Gesamtschulen“ und ihren mittelmäßigen Ergebnissen laufen daher ins Leere, denn es handelt sich dort um die alte IGS, die wegen ihrer zweifachen Selektion nach Leistung den Namen Gesamtschule gar nicht verdient! Sortierung bewirkt doch das Gegenteil von dem, was die Attribute „gesamt“ oder „gemeinsam“ signalisieren! (Insofern die Industriellenvereinigung die Forderung nach Leistungsgruppen erhebt, handelt es sich bei ihrer Unterstützung des Schul-Volksbegehrens nicht mehr um eine Befürwortung der Gesamtschule, sondern um ihre Torpedierung.) Erst in der Sekundarstufe II, wenn die Verpflichtung zum Schulbesuch fast passé ist und sich bei den meisten Jugendlichen eine deutliche Interessendifferenzierung zeigt, wird eine Sortierung sinnvoll, nämlich die nach dem Be­gabungsschwerpunkt. Sie führt im Gegensatz zu der Sortierung nach Leistung zu keinen pädagogischen Schäden.
 
Welches sind Ihre wichtigsten Argumente?
Rupert Vierlinger.: a) Jede Sortierung von Schülern, die nicht nach Spezialbegabungen, sondern im Sinne der allgemeinen schuli­schen Bildbarkeit erfolgt, ist zu mehr als einem Drittel der Fälle falsch. Am Gymnasium befindet sich z.B. ein überraschend hohes Kontingent von Schülern (rund 20 %), deren Leistung gleich gering ist wie die der Hauptschüler in der dritten Leistungsgruppe. Das Instrument, mit dem die Weichen für den zukünftigen schulischen Lebensweg und dessen Konsequenzen gestellt werden, ist somit untauglich, denn es transportiert Ungerechtigkeit. Ungerechtigkeit aber ist ein Krebsübel, das in jeder menschlichen Gruppierung die sozialen Bande zerrüttet.
b) Jeder, der über seine eigene Lerngeschichte nachdenkt, weiß um die Bedeutung des Lernens an Vorbildern! Die Pädagogische Psychologie sagt uns, dass dieser Faktor in früher Jugend von gleicher Bedeutung ist wie der Einfluss der Lehrperson. Wie kann die Politik ein Schulsystem verantworten, das den Schwächeren – einer Quantité néglegiable? - die Vorbilder raubt? Selbst sog. Sonder­schüler erzielen bessere Fortschritte, wenn sie bei den Tüchtigeren bleiben dürfen.
c) Wenn es zuträfe, dass es für die besonders Begabten in einem heterogenen Verband von Pflichtschülern schädlich wäre, als „Zugpferde“ wirken zu dürfen, hätte ich meine fraglos gymnasialreife zehnjährige Tochter nie in die Gesamtschule gegeben, die ich 1973 an der Pädagogischen Akademie der Diözese Linz gegründet habe. Zu groß war und ist mein Respekt vor Leistung. Heute ist sie Universitätsprofessorin. Das „docendo discimus“ (beim Lehren lernen wir) des antiken Lehrers Seneca formuliert Eric Kandel, der österreichstämmige Nobelpreisträger für Neurobiologie, folgend: „Es gibt keine bessere Möglichkeit zu prüfen, ob man etwas verstanden hat, als zu versuchen, es anderen zu erklären!“ Und - möchte ich hinzufügen - es gibt auch keine bessere Möglichkeit, soziale Verantwortung für die „minderen Brüder“ zu lernen, als eingeladen zu sein, ihnen unter die Arme zu greifen. „Das wäre doch gelacht“, haben meine Tochter und ihre hochbegabte Freundin gesagt, „wenn es uns nicht gelänge, den M. durchzubringen.“
Lehrer als Helfer und Trainer und nicht Richter und Zensor
d) In einer berühmten Studie hat Jürgen Baumert nach der „Wende“ den mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnisstand der Sechzehnjährigen in den bis dahin getrennten deutschen Ländern verglichen. Die Besten waren in beiden Schulsytemen (geglieder­tes System im Westen, echte GS im Osten) gleich gut. Bei den Schwachen aber gab es einen signifikanten Unterschied zu Gunsten der Ostdeutschen! - Ist es denn für die Gegner der GS nicht alarmierend, dass die Regionen mit den internationalen Elite-Schülern bei PISA (Finnland, Kanada, Südkorea, Neuseeland, Singapur, Shanghai u.a.) alle echte Gesamtschulen haben? Die Prophetie vom Verkümmern der Eliten ist also längst als ideologische Schimäre entlarvt!
e) Die Gesamtschule macht mit ihrer inneren (unterrichtlichen) Differenzierung endlich Schluss mit dem „Exerziermodell der Di­daktik“, welches alle Schüler einer Klasse „nach der Schnur hobelt“ (Herbart) und ihnen ohne Rücksicht auf ihre Individuallage die Bearbeitung gleicher Inhalte - auf gleiche Weise - im gleichen Tempo - und in der gleichen Zeit abfordert. Das Defizit dieses unifor­mierenden Unterrichtes, der seit der Zeit des Aufgeklärten Absolutismus für homogen sein sollende Klassen nach wie vor vielfach angeboten wird, zeigt sich in der grassierenden Schattenwirtschaft der Nachhilfeinstitute. Die Gesamtschule würde auch mit dem
Skandal aufräumen, dass in Österreich jährlich rund 5000 Schüler die Pflichtschule ohne Abschluss verlassen!
f) Die Gesamtschule richtet den Blick des Lehrers wieder auf sein ureigenstes Geschäft: Helfer und Trainer zu sein und nicht Rich­ter und Zensor. Der „geborene“ Lehrer und das gegliederte Schulsystem sind im Grunde gar nicht kompatibel: Kümmert sich eine passionierte Lehrerin zu sehr auch um die Zurückbleibenden, versündigt sie sich geradezu am System: Dieses verlangt permanente Diagnose und bei negativem Ergebnis Abstufung! Wozu denn sonst bestünde (schon in der Sekundarstufe I!) die Einrichtung der verschiedenen Leistungsriegen?
g) Wenn durch die Gesamtschule die Tortur des Ausgrenzens aus dem Schulleben verbannt wird, dann kommt dies einer radikalen Sanierung des psycho-sozialen Klimas gleich! Keiner mehr muss den Mitschüler als Rivalen sehen und die Energie im Selektions­gerangel vergeuden. Sie bleibt ihm für die Zusammenarbeit im Dienst an der Sache! Die Devise lautet nicht mehr: „Übertriff Paul!“ sondern: „Übertriff dich selbst!“
h) Die Eltern werden es begrüßen, dass die Schulwahlsorgen bis in die beginnende Reifezeit hinausgeschoben werden. Das häusli­che Zusammenleben mit dem Kind wird friedlicher, wenn ihm das Schulsystem nicht schon in so jungen Jahren die schmerzlichen Prozeduren des Sortierens und des Degradierens aufoktroyiert.
 
Worin liegen die Wurzeln Ihres geradezu leidenschaftlichen Einsatzes für die Gesamtschule?
Rupert Vierlinger.: Ganz wichtige Impulse gaben mir die Reformpädagogen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Montessori, Parkhurst, Freinet, Reichwein usw.. Als ich in den Fünfzigerjahren in einer Wiener Privatschule Hauptschullehrer war, drängte der Bezirksschulinspektor darauf, dass sich die Schule der „Philosophie“ der Zweizügigkeit öffne. Nicht 50 Kinder in der Klasse zu haben sondern 25, das wäre mir schon sympathisch gewesen – allein schon wegen der Verbesserung der Deutsch-Schularbeiten. Aber „meine“ Buben stimmig in zwei niveauverschiedene Gruppen einzustufen, schien mir schier unmöglich und war mit meinem Gerechtigkeitsbegriff unvereinbar.
Mittlerweile haben mir viele nationale und internationale empirische Studien Schützenhilfe geleistet: Es ist erwiesen, dass die Sor­tierung nach Leistung in der Sekundarstufe I zu mehr als einem Drittel fehlerhaft ist, ob es sich um Schultypen (Hauptschule – Gym­nasium), um Leistungszüge der alten Hauptschule oder um Leistungsgruppen der IGS bzw. der „Neuen Hauptschule“ handelt. Jede Abstufung aber beschädigt das Selbstwertgefühl und damit auch die Leistungsbereitschaft. (Aufstufungen kommen kaum vor.)
 
Dass es für den guten Schüler nicht nachteilig ist, einen leistungsschwachen neben sich zu haben, hat mich meine jahrelange Erfah­rung mit einem debilen Sitznachbar in der Dorfschule gelehrt. Dass es geradezu ein ethisches Gebot ist, sich nicht nur um die eigene Prosperität zu kümmern, sondern auch Verantwortung für die Mitschüler zu tragen, führt uns spätestens das Desaster vor Augen, das in der heutigen Gesellschaft durch den Neoliberalismus verursacht worden ist. In der Schule muss eine andere Ethik herrschen als die, die sich in den Finanzmärkten eingenistet hat. Dort tummeln sich nach Helmut Schmidt „intelligente, aber einäugige Idioten. Auf dem einen Auge, welches das Gemeinwohl im Blick haben sollte, sind sie blind, und mit dem anderen schielen sie nach ihren Bonifikationen.“ Der deutsche Altbundeskanzler beschließt seine Kritik mit dem lapidaren Satz: „Sie haben keine Verantwortung.“ - Verhält es sich denn im gegliederten System der Sekundarstufe I nicht so, dass es mit seiner Tendenz zu rigorosem Wettbewerb und gnadenloser Ausgrenzung dem Neoliberalismus zuarbeitet?
 
Schließlich darf ich noch darauf hinweisen, dass mir in der Einschätzung der Gesamtschule auch meine eigenen Kinder zu Lehr­meistern geworden sind. Marcellinus, der um zwei Jahre ältere Bruder von Lydia, war 1973 bereits am Gymnasium, als die an der Päd. Akademie der Diözese gegründete GS eröffnet und Lydia eingeschult worden ist. Ihre Mitschülerinnen waren im Laufe der Jahre für Marcellinus eine „Fundgrube“ bei seiner Suche nach Freundinnen. Er war daher häufig anwesend, wenn sie mit Lydia in unserer Wohnung ihre Schulaufgaben machten. Zur Zeugniszeit des letzten Jahres kam es zum Zwist. Er hatte eine hohe Notensum­me (viele Dreier und Vierer), Lydia eine niedrige, obwohl die Begabung der beiden vergleichbar war und ist. Er warf sich in Positur und prahlte: „In deiner Schule hätte ich auch...!“ Lydia rief mich zu Hilfe: „Papa, jetzt erklär’ ihm einmal, worum es in unserer Schule geht!“ Er aber wehrte lächelnd ab: „Ich weiß ja ohnehin, was der Unterschied ist zwischen deiner und meiner Schule: Ich muss lernen, damit ich keinen Fünfer bekomme, und du kannst lernen, weil es dich interessiert.“
 
Buchtipp:
Rupert Vierlinger
Schulerfahrung & Schulreform
Stationen eines Lehrerlebens
Wagner-Verlag Linz 2011
329 Seiten, EUR 25,-
 
Text: Wilfried Bader/Initiative für politische Bildung und Information