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Vortrag und Diskussion Kultursensible Altenarbeit am 15. November 2012 im Tagungshaus Wörgl |
vero / 22.11.2012 08:44
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Dr. Margit Schäfer referierte im Tagungshaus Wörgl. Wörgls Integrationsreferent GR Christian Kovacevic und der LA21-Beauftragte DI Peter Warbanoff fragten nach dem Vortrag nach, was die Stadt aufgrund der Vorarlberger Erkenntnisse konkret umsetzen könne.
Mit dem Wandel unserer Gesellschaft zur kulturellen Vielfalt kommen auch neue Herausforderungen auf uns zu. Das Bundesland Vorarlberg beschäftigt sich vorbildlich mit Zukunftsfragen auch im Bereich der Altenarbeit und gab im Jänner 2011 ein Projekt zur Grundlagenerhebung und Erarbeitung von Maßnahmen in Auftrag, dessen Resultate die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Margit Schäfer auch als für Tirol gültig sieht.
Kultursensible Altenarbeit betreffe nicht nur die Migrationsbevölkerung, sondern alle: "Kultursensible Pflege wäre der Idealfall in der Pflege überhaupt. Das bedeutet individuelle Pflege unter Berücksichtigung der Herkunft, Religion und individueller Verrücktheiten. Die Respektierung der Verschiedenheit und Pflege dieser Unterschiede ist der Kern der Lebensqualität im Alter, nicht nur für die Migrationsbevölkerung", erklärte Schäfer.
Österreich habe eine lange Migrationsgeschichte, war zu Zeiten der Monarchie ein Vielvölkerstaat. Schäfer gab einen statistischen Überblick über aktuelle Bevölkerungsdaten: "Bei einer Gesamtbevölkerung von 714.449 Menschen in Tirol Ende 2011 sind mit 119.700 Personen 16,8 % ausländischer Herkunft. Aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen 17.480 Menschen (2,4 %), aus der Türkei 11.933 (1,7 %)."
Das Vorarlberger Projekt
Basis für das Vorarlberger Projekt, das von der Landesregierung in Auftrag gegeben wurde, bildet das Vorarlberger Integrationsleitbild. Es umfasst mit den Bereichen Recht und gesetzlicher Rahmen, Betreuung und Pflege sowie Prävention und Gesundheitsförderung als langfristige Aufgabenstellung für den Bildungsbereich drei Säulen. Das erstellte juristische Gutachten betreffend Leistungen für Personen ohne Staatsbürgerschaft sei auch in Tirol gültig.
Wer betreut und pflegt wen? Das sei auch eine Sache der Gesundheitsorganisation. "Der größte Anteil von BetreuerInnen nicht österreichischer Staatsbürgerschaft kommt mit 16.000 Personen vorwiegend aus Rumänien und Bulgarien in der 24-Stunden-Pflege daheim vor", schilderte Schäfer die Vorarlberger Situation.
Im Rahmen des Projektes Kultursensible Altenarbeit in Vorarlberg wurde als erster Schritt ein Netzwerk gebildet und eine Steuerungsgruppe eingerichtet. Expertengespräche und Dialogveranstaltungen folgten, bei denen zugewanderte Menschen erster und zweiter Generation befragt wurden. "Die grundlegende Erkenntnis daraus war, dass in der Altenpflege kein grundlegender Unterschied besteht", so Schäfer - die Bedürfnisse seien die gleichen. Um die rechtliche Situation zu klären, erstellten die Professoren Pfeil und Felten ein Gutachten. Die daraus resultierenden Informationen zu Themen Recht und Sachwalterschaft wurden in einer Sondernummer der Zeitschrift DaSein auf deutsch, serbokroatisch und serbisch ebenso publiziert wie vorhandene Dienstleistungsangebote. Wie diese verbessert werden können, damit befasste sich die Rheintaler Alterstagung im November 2011. Die Selbsthilfegruppe "Hand in Hand altern" von Vorarlberger MigrantInnen befasst sich mit Themen wie Pflege daheim, Heimhilfe, Demenz u.a. Die abschließende Projektpräsentation findet am 4. Dezember in Vorarlberg sowie am 5. Dezember 2012 bei der Integrationstagung in Innsbruck statt.
Drei große Themenfelder
Aus der Erhebung kristallisierten sich drei große Themenfelder heraus. Als erstes das Informationsdefizit, begleitet von Sprachproblemen. Der zweite Bereich umfasst die Pflege daheim, die psychischen und innerfamiliären Verhältnisse. Bei Migranten seien da die Konflikte noch größer als bei Einheimischen, da die Frauen im traditionellen Familienbild in die Rolle der Pflege gedrängt werden, während bei uns diese Rollenzuschreibungen aufgebrochen sind, der Wertewandel weiter fortgeschritten ist. Der dritte Bereich betrifft das Dilemma der 1. Generation, die sich als "Opfer-Generation" erlebt - sie wollte eigentlich nicht in der Fremde alt werden.
Das Fazit daraus: "Kultursensible Altenarbeit ist ein Generationen- und Frauenthema, egal woher die Leute kommen", so Schäfer. Deshalb gehe es darum, "dass wir uns zusammensetzen, und nicht auseinandersetzen." Das Wissen um die eigenen Wurzeln sei wichtig, aber der Austausch sollte auf Basis der Gemeinsamkeiten erfolgen. Schäfer: "Auf der Meta-Ebene gibt es wenig Unterschiede." Ein großes Thema, das langfristig zu lösen sei, stellt die Ausbildung des Personals dar, wofür auch bestenfalls muttersprachliches Pflegepersonal gefunden wird. Das ist derzeit allerdings ein wunder Punkt - Pflegekräfte mit Migrationshintergrund werden nicht selten von den pflegebedürftigen Einheimischen abgelehnt, und der Großteil der pflegebedürftigen Migranten wird noch in den Familien gepflegt. Aber auch dort lösen sich enge Familienbande zunehmend auf.
Was ist in Tirol zu tun?
Die Vorarlberger Ergebnisse treffen in der Analyse auch auf Tirol zu, weshalb eine neuerliche Basiserhebung wenig Sinn mache. Tirol könne auf die Vorarlberger Ergebnisse bereits aufbauen. "Was es braucht, ist einen Kümmerer und eine Netzwerk-Struktur", erklärt Margit Schäfer. Und in der Folge eine Ausbildungsoffensive, wobei sie auf Wien verweist: "Wien ist kulturell vielfältiger, dort gibt es bereits Projekte wie Migrance-Care, wo 18 Personen für Heimhilfe ausgebildet werden." Derzeit habe dort das Thema Hauskrankenpflege Priorität, noch nicht der stationäre Bereich.
Kulturelle Unterschiede in der Pflege wirken sich bei der Körperpflege ebenso aus wie beim Speiseplan, im stationären Bereich betreffen sie auch die Glaubensausübung. Es bestehen auch unterschiedliche Vorstellungen davon, was eine Dienstleistung ist, was zu Konflikten beim Thema Nähe - Distanz führen kann. Während vom Personal Pflege als Arbeit verstanden wird, die professionelle Distanz erfordert, werde das in einer anderen Kultur als unhöflich interpretiert, da Pflegende Familienmitglieder eine andere Nähe zu Angehörigen haben. Diese Unterschiede wurzeln in eine anderen Beziehungskultur auch beim Thema Gastfreundschaft, da kann die Nähe auch zum Problem werden. "Geschlechterspezifische Pflege meint, dass Frauen lieber von Frauen gewaschen werden. Und ein weitere Unterschied ist der Besuch. Viel Besuch gilt als Zeichen der Wertschätzung für den Kranken, überfordert aber die PflegerInnen", erläutert Schäfer.
Ein weiterer Punkt sind unterschiedliche Schmerz-Ausdrucksformen: "Die südländische Bevölkerung drückt Schmerzempfinden anders aus. Die Lautstärke sagt dabei nichts darüber aus, wie groß der Schmerz tatsächlich ist. Diese Lautstärke findet oft keine Akzeptanz. Das ist vor allem auch ein Problem für Rettungskräfte bei kultursensibler Krisenintervention." Ein großes Thema ist in jedem Fall die Sprache, aber auch zu Sterben und Tod gibt es unterschiedliche Rituale. Bei anderen Kulturen sei auch das Verständnis vom Gesundheitssystem als Ganzes anders. Wir gehen nicht sofort ins Krankenhaus, sondern erst zum Hausarzt, dann zum Facharzt, dann erst ins Krankenhaus oder die Klinik", gab Schäfer einen Einblick ins weite Feld der Praxis kultursensibler Arbeit im Gesundheitssystem, die sich bis zur kultursensiblen Psychiatrie erstreckt.
Auch wenn zu einzelnen Themen bereits zweisprachige Broschüren beim Bundesministerium erhältlich sind, so erreiche die schriftliche Information die Migrationsbevölkerung nur eingeschränkt. Das habe mit unterschiedlicher Kommunikationskultur zu tun. Es brauche eine aktive mündliche Bewerbung in den Gemeinschaften durch eine Autoritätsperson, da die Kommunikation über wichtige Inhalte nicht vorwiegend über das geschriebene Wort, sondern über Gesagtes gehe, stellte dazu eine Diskussionsteilnehmerin mit Praxiserfahrung fest.
Was kann Wörgl tun?
"Was kann die Gemeinde tun? Welche Maßnahmen sind sinnvoll?" wollten Wörgls LA21-Beauftragter Peter Warbanoff und Integrationsreferent GR Christian Kovacevic wissen. "Ich kann eure Probleme nicht lösen. Aber der Ansatzpunkt wäre, über Gemeinsamkeiten und über Betroffenheit im Dialog zusammen zu kommen. Am Gespräch führt kein Weg vorbei", gab Schäfer den Rat und gleich einen Tipp zur Umsetzung dazu. Dafür würde sich ein "Speak-Dating" zum Thema "Was bedeutet Alter, Pflege, Kontrollverlust?" in den unterschiedlichen Kulturkreisen anbieten.
Wieweit mit einer Zeitbank im Bereich der kultursensiblen Altenarbeit bei der Betreuung daheim gearbeitet werden kann und ob das auch Thema des Vorarlberger Projektes war, lautete eine weitere Publikumsfrage. Die konkreten Maßnahmen seien noch nicht berücksichtigt, jetzt aber der nächste Schritt. Dr. Margit Schäfer hatte aber auch dazu eine interessante Information: "Das Land Vorarlberg übernimmt die Garantie für die Zeit, die Familienmitglieder in die Pflege und Betreuung investieren."