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"Alles paletti?" - 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei

 

Für die musikalische Umrahmung sorgten die beiden Musiker Hasan Iyigöze aus Wörgl mit Sas und Gesang und Erdem Tohumcu aus Kramsach. Lisa Gensluckner von der Initiative Minderheiten Tirol, Eva Schaffer vom Tagungshaus Wörgl und Wörgls Integrations- und Jugendreferent Christian Kovacevic bei der Begrüßung (v.l.).

"Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Menschen" - dieses Zitat von Max Frisch offenbart die Problematik der Anwerbeabkommen, die 1964 mit der Türkei und 1965 mit Jugoslawien geschlossen wurden. Von den Gastarbeitern sind viele geblieben. "Österreich hat sich zu einem Einwanderungsland entwickelt", stellte Lisa Gensluckner von der Initiative Minderheiten Tirol einleitend fest und betonte, dass es ohne diese Arbeiter den wirtschaftlichen Boom in Österreich nicht in dieser Form gegeben hätte.

"Wichtig für die Diskussion heute ist der Blick zurück. Hinter jedem steht ein persönliches Schicksal, das ist wichtig für das Verstehen", erklärte Wörgls Jugend- und Integrationsreferent Christian Kovacevic. Ebenso wichtig sei, offen und ehrlich auch das Konfliktpotenzial anzusehen.

Mit den Begriffen Heimat, Biografie, Identität und Fremdsein beschäftigten sich auf Anregung der Initiative Minderheiten Tirol auch die Jugendlichen der LEA Produktionsschule Unterland, die ihren Sitz in Wörgl am Angatherweg hat. Im Foyer des Tagungshauses waren Euro-Paletten mit der Installation "Alles paletti? - Von der Fremde in die Nähe"aufgestellt, die sich mit der Migrationsgeschichte von Menschen aus Wörgl und Umgebung befasste. "Jugendliche führten Interviews mit Zuwanderern der ersten Generation und TeilnehmerInnen des ABC-Cafés über ihre Lebens- und Arbeitshorizonte, vorwiegend im Bau- und Dienstleistungs-Sektor. Das ergab eine breite Palette von Erfahrungen, Erwartungen, Träumen, Hoffnungen, Wünschen, aber auch Ernüchterungen und Überraschungen", erklärt Reinhard Rausch, LEA-Projektleiter die Vorgangsweise bei der künstlerischen Aufarbeitung. Die Jugendlichen stellten dazu drei Paletten-Bereiche unter den Aspekten Erfahrungs-, Hör- und Informationspalette zusammen. "Alles paletti?" verstehe sich auch als Bestandsaufnahme, inwieweit wirklich alles in Ordnung ist: "Sind diese Menschen angekommen? Was hat Österreich zur Migration beigetragen?"

Diesen Fragen spürt der 93minütige  Dokumentarfilm "Gurbet - in der Fremde" vom selbst zugewanderten Filmemacher und Regisseur Kenan Kilic  nach, der für die Diskussion nach der Vorführung aus Wien anreiste. Anhand von Porträts sehr unterschiedlicher Menschen mit Arbeitsmigrationsgeschichten aus der Türkei vermittelt der Film ein tiefgreifendes Verständnis für viele Problembereiche von Integration und deren historische Ursachen.  Wieweit diese Erfahrungen auch auf jene von Arbeitsmigranten in Wörgl und Umgebung zutreffen, wurde bei der anschließenden Diskussion unter der Moderation vom Michael Haupt von der Initiative Minderheiten Tirol erläutert.

Kenan Kilic wurde 1962 in der Türkei geboren, lebt seit 1981 in Wien und kam über die Mitarbeit bei der ORF-Sendereihe "Heimat, fremde Heimat" zum Film. Seit 1990 arbeitet er als Filmemacher, stellte 2003 den Spielfilm Nachtreise fertig und begleitete dann ab 2004 sechs Jahre lang für seinen ersten Dokumentarfilm Zuwandererfamilien mit der Kamera. "Durch den Film habe ich die Türkei besser kennengelernt als wenn ich dort gelebt hätte. Ich habe damit auch mein eigenes Leben reflektiert", erklärt Kilic, der von seiner Arbeit beim Integrationsfonds in Wien die Motivation zum Dokumentarfilm bezog: "Von den Menschen der ersten Generation hat es dort kaum etwas gegeben."

Nach der Filmvorführung war Zeit, sich mit der Installation "Alles paletti?" zu beschäftigen, was u.a. auch Wörgls Pfarrer Theo Mairhofer tat (Bild rechts).

Wie weit stimmen die Erfahrungen der im Film Gurbet gezeigten MigrantInnen mit jenen in Wörgl überein? Darüber diskutierten am Podium Mona El-Shabrawy aus Ägypten sowie Mustafa Ersoy und Sarki Otyan aus der Türkei mit dem Publikum, wobei sich alle sehr beeindruckt vom Dokumentarfilm zeigten und vieles davon bestätigten. "Es war so wie im Film gezeigt. Damals gab es nur den Bahnhof als Treffpunkt - keine Moschee, kein Café oder sonst etwas", erinnert sich Mustafa Ersoy, der als erster Gastarbeiter im August 1971 nach Wörgl kam und für die Firma Permooser 42 Jahre lang Kohle auslieferte. Gern denkt  er daran zurück, wie er den Führerschein als einziger Ausländer trotz der Sprachprobleme geschafft hat: "Die Menschen waren damals viel freundlicher als heute."

Auch Mona bestätigte, vieles so wie im Film erlebt zu haben, besonders die Auseinandersetzung mit der Identität: "Ich bin Österreicherin und Ägypterin. Wenn es heißt bei uns - was ist dann damit gemeint?" Mona kam mit ihrem Mann, der Arzt werden wollte, 1977 nach Wörgl, beide mit akademischem Abschluss. Beim Ankommen in Wörgl halfen ihr Frauen der katholischen Frauenbewegung, u.a. auch bei der Wohnungssuche. Mittlerweile haben alle drei Töchter akademische Abschlüsse und arbeiten in sozialen Berufen. "Wörgl ist auch meine Heimat. Nach vier Wochen Urlaub in Ägypten will ich nach Hause. Ich bin in Wörgl sehr glücklich und zufrieden", sagt Mona. Deutsch lernte sie damals mit ihren Kindern mit und begrüßt es, dass heute sehr viele Deutsch-Kurse angeboten werden: "Das ist super!"

"Wir müssen mehr geben als Einheimische", schilderte Serkis Otyan, Tischler armenischer Abstammung aus der Türkei seine  Erfahrung. Er bemühte sich, erlernte die neue Sprache, kaufte nach 8 Jahren ein Haus, engagierte sich ab 1976 als Schiedsrichter beim Fußball. Er wollte für zwei Jahre kommen, Geld sparen und zurück gehen - aufgrund des Facharbeitermangels blieb er. Sein Appell an Zuwanderer: "Habt keine Minderwertigkeitsgefühle." Was Kenan Kilic unterstrich: "Sei stolz darauf, was du bist!" 

Jugendliche der LEA-Produktionsschule mit LEA-Projektleiter Reinhard Rausch und der interkulturellen Mediatorin Gülsah Kaya (links). Bei der Podiumsdiskussion v.l. Mona El-Shabrawy, Regisseur Kenan Kilic, Moderator Michael Haupt, Mustafa Ersoy und Serkis Otyan (Bild Mitte von links).

Sprachprobleme beschäftigen nicht nur die erste Generation der Zuwanderer, wie die Publikumsdiskussion zeigte. "Warum sprechen Kinder der 3. und 4. Generation so schlecht deutsch?" wollte Sprengel-Obfrau und Ehrenbürgerin Maria Steiner wissen. Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht, wohl aber etliche Erklärungsversuche. Mangelndes Bildungsniveau im Herkunftsland wurde ebenso genannt wie die Praxis, zum Heiraten Partner ohne Deutschkenntnisse aus der Türkei zu holen. Türkisches Satelliten-Fernsehen trage ebenso dazu bei wie der Umstand, dass wenig Kontakt zu Einheimischen bestehe.

Die Spracherziehung der Kinder als herausfordernde Aufgabe nahm Christian Kovacevic mit aus der Diskussion und stellte fest: "Hier braucht es noch viel Kommunikation." Seine Lieblingsszene aus dem Film? "Als der Taxifahrer sagte, was kümmert den Gast, ob er Ausländer ist, wenn der Service stimmt."

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