Die Schule soll Abschied vom Gedanken nehmen, Kinder auf die Zukunft vorzubereiten – das forderte der Philosoph Prof. Dr. Konrad Paul Liesmann in seiner inspirierenden Festrede „Zwischen Kompetenzorientierung und Digitalisierungseuphorie – das Gymnasium und die Herausforderungen der Zukunft“ bei der 50-Jahr-Feier des Bundesrealgymnasiums Wörgl am 16. März 2018. Nicht wie das Kaninchen auf die „Schlange“ des technischen Fortschrittes starren, sondern allgemeine Menschenbildung mit Attributen wie Humanität, Individualität, Selbständigkeit, Autonomie und Urheber seiner eigenen Handlungen zu sein wieder vermehrt stärken – und in der Vermittlung dieser Aspekte von Bildung habe das Gymnasium auch Zukunft.
Der „Pilgerchor“ aus Wagners Oper Tannhäuser, vorgetragen vom 80-köpfigen Schulorchester unter der Leitung von Siegfried Waldner bildete den festlichen Auftakt zur Jubiläumsfeier in der Aula des Bundesschulzentrums, zu der sich u.a. zahlreiche Weggefährten der vergangenen fünf Jahrzehnte – mit Helga Petzer und Pepi Ritzer sogar zwei Gründungsmitglieder – Schüler- und Elternvertreter sowie Alumni einfanden. Ein Bläserensemble unter der Leitung von Prof. Christine Haas trug zum festlichen Rahmen der Feier ebenso bei wie ein Büffet mit salzigen und süßen Köstlichkeiten, zubereitet und serviert vom Team der Bundesfachschule für wirtschaftliche Berufe mit Aufbaulehrgang BFW+AL Wörgl.
50 Jahre im Rückblick und Herausforderungen für die Zukunft
Das BRG Wörgl startete 1967/68 mit einer Klasse als Expositur des Kufsteiner Gymnasiums. Ein Jahr später unterrichteten bereits 10 Lehrer 70 SchülerInnen in der neu gegründeten Schule, die zunächst in einer Baracke untergebracht war und 1973 ins neu gebaute, als Modellschule in Fertigbauweise konzipierte Gebäude an der Innsbruckerstraße übersiedelte. Direktor Johann Fellner ließ 50 Jahre Schulgeschichte Revue passieren, erinnerte an überfüllte Klassen bei einem Höchststand von 835 Schülern, die notwendige Neuausrichtung der Schule in den 1990er Jahren und den Schulumbau zur Jahrtausendwende, für den die Schulen des Bundesschulzentrums für eineinhalb Jahre in eine Containerschule ausgesiedelt wurden. Derzeit zählt das naturwissenschaftliche Realgymnasium 724 SchülerInnen und 78 Lehrpersonen.
Fellner gab einen Einblick in Schulaktivitäten auch abseits des Lehrplanes wie Spendenlauf oder Theater, listete vielfache Wettbewerbserfolge der SchülerInnen auf und kündigte an, dass ab nächstem Jahr vermehrt digitale Grundausbildung am Stundenplan steht. „Unsere Schule hat sich entwickelt – sie hat keinen Schwerpunkt, aber große Vielfalt“, so Fellner, der als Herausforderung den Umgang mit Mobbing ebenso artikulierte wie trotz vollgestopfter Lehrpläne Freiräume zuzulassen.
Plädoyer für Allgemeinbildung
„Die Aufgaben der Schule haben sich gewandelt und gehen über reine Wissensvermittlung hinaus“, erklärte Bürgermeisterin Hedi Wechner und bedauerte, dass vielfach nicht mehr Bildung, sondern Ausbildung im Mittelpunkt stehe und damit das Erkennen von Zusammenhängen verloren gehe. Schulen sollten kein Tummelplatz für politische Ideologien sein, meinte sie bezugnehmend auf die derzeitige „Retrowelle“ und hob die schwierige Rolle der Lehrpersonen hervor, die aufgrund von Zugangsbeschränkungen am weiteren Bildungsweg vermehrt unter dem Druck stehen, gute Zeugnisse auszustellen.
Auf eine Zukunft vorbereiten, die wir nicht kennen…
„Schule hat die unmögliche Aufgabe, auf eine Zukunft vorzubereiten, die wir nicht kennen“, räumte Landesschulinspektorin HR Mag. Adolfine Gschließer ein und ging in diesem Punkt konform mit Festredner Univ. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann. In seinem Blick zurück auf die Geschichte des Gymnasiums seit der Antike kam er auf Ernüchterndes ebenso wie auf Erheiterndes, zeichnete die Erweiterung von der reinen Wissens- und Kompetenzvermittlung hin zur sozialen Funktion nach und stellte das Phänomen zur Diskussion, dass der Notendurchschnitt der Maturazeugnisse immer besser werde und der Begriff der Leistung nicht mehr so ganz scharf definiert sei.
Zentrale Aspekte der allgemeinen Menschenbildung, beruhend auf Wilhelm Humboldt, seien die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen, sich selbst zu entfalten. Ganz entscheidend trage dazu Musik, Literatur, Theater und das Einüben und Ausprobieren von Fähigkeiten und Formen des menschlichen Miteinanders bei. Musische, kulturelle Fächer sollten parallel zum technischen Fortschritt keinesfalls vernachlässigt werden – sie eröffnen Erfahrungshorizonte zur Konfliktlösung. Liessmann sieht in der neuen Kompetenzorientierung die Gefahr, dass reines Ansammeln von Wissen das Verhältnis von Kenntnis und Fähigkeit verkehre. „Kompetenzorientierung kann nicht Ziel des Bildungsprozesses sein“, so Liessmann, der für einen angemessenen Umgang mit Technologie und kompetente Medienerziehung plädiert, die über die Handhabung technischer Geräte hinausgehe. Etwa was die Folgen von Hasspostings oder Mobbing betrifft – da könne Theater und Literatur gleich einem Kontrastmittel die Konsequenzen emotionaler Entwicklungen jenseits der digitalen Welt bewusst machen.
Technologie nicht überbewerten
„Digitale Technologien können relevante pädagogische Fragen nicht lösen“, sieht Liessmann den Einzug der Digitalisierung in den Unterricht kritisch, im frühkindlichen Stadium sogar als hinderlich: „Kreativität und Fantasie entwickeln sich sicher nicht durch Vorgefertigtes“, so Liessmann, der dafür eintritt, mit so wenig Technik wie möglich zu lernen – diese unterstützte die Bequemlichkeit – und dem Lesen einen großen Stellenwert beimisst: „Lesen lernen heißt das Hirn zur Leistung auffordern.“ Und Beuys zitierend: „Lieber einen Kartoffel und ein Schnitzmesser in die Hand drücken, das schafft Kreativität.“
Kann Schule auf die Zukunft vorbereiten? Nein, sagt Liessmann und erinnerte an Zukunftsprognosen aus seiner eigenen Jugendzeit. Jeder werde im Jahr 2000 ein kleines Atomkraftwerk zuhause haben und das Verkehrsproblem sei Dank persönlich genützter Raketenantriebstechnik auch gelöst – hingegen war von einem Mobiltelefon niemals die Rede. Menschenbildung bedeute nicht, „zielgerichtet auf Arbeitsmärkte vorzubereiten, die wir nicht kennen“, so Liessmann im Hinblick auf Szenarios, die besagen, dass in einem Jahrzehnt 50 % der derzeitigen Arbeitsplätze nicht mehr existieren. „Wir wissen nicht, wie die Jobs der Zukunft aussehen werden“, so Liessmann. Die technische Entwicklung sei ebenso wenig vorhersehbar wie die politische. Was also an Wissen aneignen? Die Anforderungen an Schule haben sich in der digitalen Wissensgesellschaft verändert. Brennend aktuell sieht der Philosoph in den nächsten Jahren den Ethik-Unterricht wie auch die Befassung mit religiösen Konflikten, von denen man glaubte, sie längst gelöst zu haben.
Herzensbildung, das Entwickeln eigener Fähigkeiten, neugierig machen auf Natur(wissenschaften) – darin habe das Gymnasium lange Erfahrung und deshalb auch eine gute Zukunft. Und spontanen Zwischenapplaus erntete Liesmann für die Feststellung, dass Schule auch deshalb funktioniere, „weil Lehrer den Mut haben, sich nicht an Vorschriften zu halten.“