„Menschen auf der Flucht – Herausforderungen und Chancen“ – unter diesem Motto stand am 30. Mai 2017 ein Abend im Bundesrealgymnasium Wörgl, bei dem Schüler ihre vorwissenschaftlichen Matura-Arbeiten zum Thema Flucht und Asyl vorstellten und Peter Mader über die Flüchtlingsbetreuung des Roten Kreuzes in Kufstein berichtete. Nicht nur darüber reden, sondern auch selbst Betroffene zu Wort kommen lassen – dem millionenfachen Leid der syrischen Bevölkerung gab der 21jährige Abdulghani Allaf ein Gesicht und schilderte seine Flucht aus Aleppo.
„Wir wollen mit diesem Abend Verständnis für die Probleme Flüchtender schaffen“, erklärte BRG-Dir. Johann Fellner bei der Begrüßung und dankte den beiden Lehrerinnen Uta Löser und Gabriele Peschl für die Organisation des Abends, den Peter Mader, Referent für Gesundheits- und Soziale Dienste des Roten Kreuzes Tirol mit seinem Bericht über das Engagement des Roten Kreuzes eröffnete. „Über Flucht und Asyl gibt es viele Missverständnisse, Unwahrheiten und Stammtischparolen. Komplizierte Dinge einfach darstellen geht einfach nicht“, erklärte Mader. Das RK Kufstein betreute von September 2015 bis März 2016 das Flüchtlingscamp Kufstein, in dem über 60.000 Menschen auf der Durchreise versorgt wurden – mit bis zu 1.500 Ankommenden täglich. Dabei wurden über 30 Tonnen Bekleidung verteilt, die Flüchtlinge medizinisch versorgt und verpflegt. Viele Schicksale gingen den HelferInnen nahe, besonders jene von Familien mit Kindern, denen während ihrer Zeit im Camp auch Spielsachen zur Verfügung gestellt wurden. Die Buntstifte waren schließlich für Kinder und Erwachsene ein Mittel, traumatische Fluchterfahrungen zu verarbeiten und auf Papier zu bringen. „Die 160 aussagekräftigsten Zeichnungen bilden nun eine Wanderausstellung, die gebucht werden kann“, erklärte Mader und wies auch auf die Rot-Kreuz-App mit Argumenten gegen Stammtischparolen hin.
Die Ausstellung war auch schon am BRG Wörgl zu sehen und gab den Anstoß für die Matura-Projekte. Vier Maturanten des BRG Wörgl befassten sich im Zuge ihrer Vorwissenschaftlichen Arbeiten mit der Thematik Flucht und Asyl. Lukas Gwiggner beschäftigte sich mit Kindern und Jugendlichen auf der Flucht. Herkunftsländer, Verfahren zur Altersbestimmung und ihre Situation in Österreich. „Das Ergreifendste war ein Interview in Auffach. Als mir ein Siebenjähriger erklärte, warum er flüchtete. Er sagte, `weißt du, da ist so viel Krieg´“, schilderte Lukas Gwiggner und empfiehlt den persönlichen Kontakt zu Betroffenen.
Der beschwerliche Weg einer Flüchtlingsfamilie vom syrischen Kriegsgebiet bis nach Österreich ist Thema der Arbeit von Jonas Lentsch, deren Basis ein Interview mit Abdulghani Allaf bildet. Ausgehend davon befasste sich Lentsch mit den Fluchtrouten und appellierte, endlich legale Fluchtwege zu ermöglichen: „Je dichter die Grenzen, desto teurer die Flucht. Das ist eine Absurdidät – erst muss man illegal über Grenzen, um dann legal Asyl zu beantragen.“
Klingt sperrig, ist aber alles andere als trocken – die sprachwissenschaftliche Arbeit von Adrian Schönbuchner: „Metaphorische Konzepte im öffentlichen Diskurs über die Flüchtlingsproblematik“. Worte schaffen Wirklichkeit – und Metaphern sind als Sprachbilder auch „Bildspender“. Schönbuchner erstellte über 65 Zeitungsartikel unterschiedlicher österreichischer Medien vom Juni 2015 bis Oktober 2016 eine Analyse und kam zum Schluss, dass hier vielfach Kriegs- und Naturkatastrophen-Metaphern herangezogen wurde. „Wenn von Flüchtlingswellen die Rede ist oder Flüchtlinge als Tsunami bezeichnet werden – was macht das mit uns? Metaphern prägen Denken. Wir empfinden uns als Opfer, die Flüchtenden als Bedrohung. Es suggeriert ein Gefühl der Machtlosigkeit und macht Angst – dabei würden wohl die Flüchtlinge unsere Hilfe brauchen“, lautet sein Fazit.
Flucht und Vertreibung in deutschsprachigen Werken von Autoren nichtdeutscher Muttersprache verglich Elias Taxacher und wählte dazu „Der falsche Inder“ von Abbas Khider und „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ von Sasa Stanisic, die sich mit traumatischer Flucht und Auswirkungen der Entwurzelung befassen.
„Mit dem Beginn des Krieges sind meine Träume verschwunden“, begann Abdulghani Allaf den berührenden Bericht seiner Flucht aus Aleppo. Der 21-Jährige absolviert derzeit sein freiwilliges Integrationsjahr beim Roten Kreuz. Knapp vor seiner Schulabschlussprüfung wurde er entführt, um von der Familie Geld zu erpressen. Nach 31 Tagen kam er frei, war aber durch die Einzelhaft im Dunkeln bereits traumatisiert. Er schaffte die Prüfung trotzdem. „Alle 18jährigen müssen zum Militär. Zivilistenmörder werden oder Flucht – ich musste eine Entscheidung treffen“, erinnert sich Abdulghani. Er entschied sich für Flucht, lebte eineinhalb Jahre in der Türkei, wo er sich mit vielen Gelegenheitsjobs den Lebensunterhalt verdiente, aber keine Zukunft sah. Seine Flucht führte mit 50 weiteren im Schlauchboot übers Meer. „Das Leiden endet aber nicht im Meer“, schilderte Allaf weitere Stationen seiner Flucht nach Europa, die 10 Tage dauerte. In Österreich fühlte er sich lange noch nicht angekommen – Aufenthalte im Zelt, in einer Halle mit 300 Personen in Innsbruck. „Für mich war alles schwarz“, schildert er seinen Gemütszustand. Der änderte sich erst in kleineren Betreuungseinrichtungen und durch Menschen, die ihm ganz konkret neue Horizonte eröffneten. Wie Bernhard Jochum oder sein Semester als Gastschüler in der Glasfachschule Kramsach zum Deutschlernen. „Ich habe dort viele Freunde kennengelernt, das Leben hat wieder für mich gelächelt“, sagt Abdulghani, der heute in Breitenbach bei einer Lehrerfamilie wohnt und deren Sohn auf dessen Wunsch arabisch beibringt. „Das hat alles für mich geändert. Ich bin nicht mehr allein“, sagt der 21Jährige, dessen Eltern noch in Aleppo sind. Seine Geschwister sind ebenfalls geflohen, leben in Deutschland. Durch das Freiwillige Integrationsjahr beim Roten Kreuz fühle er sich integriert, da er helfen kann: „Ich muss nicht im Heim sitzen und nichts machen dürfen.“ Kontakt zu den Eltern ist nur übers Internet möglich. Trotzdem hofft Abdulghani, sie wieder zu treffen.
Familienzusammenführung und Probleme dabei kamen bei der Publikumsdiskussion ebenso zur Sprache wie die aktuelle Betreuungssituation von Asylberechtigten. „Der Schwachpunkt ist, wenn der Asylstatus erreicht wird. Dann fallen die Menschen aus der staatlichen Betreuung – keiner ist mehr zuständig“, kritisiert Bernhard Jochum und regt an, dass die Sozialausschüsse aller Tiroler Gemeinden auch Integrationsaufgaben übernehmen sollen und Gemeindeämter damit erste Ansprechpartner werden. „Wenn jeder 45. Tiroler Haushalt einen Asylberechtigten bei Behörden, Bank oder Arztbesuchen unterstützen würde, wäre die Integration von 6.000 Leuten kein Problem“, so Jochum. „Das wäre wünschenswert, kann man aber nicht verordnen“, so Mader, der allerdings den Wert der Freiwilligenarbeit zu schätzen weiß: „Die Politik verlässt sich auf Freiwillige. Unser Sozialsystem würde ohne sie zusammenbrechen.“ Als freiwillige Helfer beim Roten Kreuz brachte Peter Mader an diesem Abend auch Flüchtlinge mit – sie umrahmten den Abend mit orientalischer Volksmusik und brachten selbstgefertigte typische Köstlichkeiten ihres Landes mit.