Vorrang für Menschen, nicht für Autos

Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten – auf diese Kurzformel lässt sich die Aussage des aufschlussreichen Vortrages des Verkehrsexperten Prof. Dr. Hermann Knoflacher am 1. April 2019 im Komma Wörgl zusammenfassen.   Unter dem provokativen Motto „Endlich autofrei?!“ lud die Stadtgemeinde als Auftakt für ein Bürgerbeteiligungsmodell die Bevölkerung zum Info-Abend über die künftige Verkehrsregelung in der Bahnhofstraße ein. „Die Fußgängerzone zieht sich seit Jahrzehnten wie ein roter Faden durch die Politik der Stadt und ruft viele Emotionen hervor“, erklärte Bürgermeisterin Hedi Wechner einleitend und lud die rund 70 interessierten BürgerInnen, die gekommen waren, zum Mitdiskutieren ein.

Neue Denkmuster und geistige Flexibilität –  das fordert der Verkehrsplaner Prof. DI Dr. Tech Hermann Knoflacher, der sich in den vergangenen 30 Jahren wiederholt auch mit Wörgl beschäftigte und zur Überraschung mancher im Saal feststellte, dass Wörgl in der Bahnhofstraße „schon jetzt eine der guten Shared Space-Lösungen Österreichs“ habe, man darüber nicht mehr diskutieren müsse. Knoflachers Fazit: „Ich sehe kein großes Risiko, eine Fußgängerzone zu machen.“ Die Bahnhofstraße mit einer Fußgängerfrequenz von 12.000 Personen und 4000 Autos täglich sei schon jetzt eine „überdurchschnittlich gute Begegnungszone“, für eine Verlagerung der noch bestehenden Autoabstellplätze sei sehr gute Vorsorge getroffen.

Wobei für die Umsetzung einer Fußgängerzone allerdings noch einige Hausaufgaben anstehen. Aus Knoflachers Sicht fehlen noch elementare Daten über das Kaufverhalten und die Kaufkraftbindung – woher kommt die Kundschaft? Mit welchem Verkehrsmittel? Wieviel wird ausgegeben? Hängt wirklich ein Großteil der Kaufkraft an ein paar Parkplätzen in der Bahnhofstraße? Es sollen nicht auf Basis von Meinungen Entscheidungen getroffen werden, sondern aufgrund untermauerter Daten. Eine Lösung für die Routenführung des öffentlichen Verkehrs und für die Zufahrt zu privaten Parkplätzen der Anrainer müsse da ebenso gefunden werden wie ein Konsens im Streit unterschiedlicher Wertehaltungen.

Während die Politik generell seit 50 Jahren auf eine „autogerechte Stadt“ fixiert ist, will Knoflacher „menschengerechte Strukturen“ fördern. In seinem wissenschaftlich fundierten und mit Humor vorgetragenen Impulsvortrag erklärte er, wie es dem Auto gelungen ist, die Gesellschaft „wie ein Krankheitserreger“ zu befallen, der uns Platz und Ressourcen wegfrisst. Die Geschwindigkeit wirke in unserem Gehirn wie eine Droge und löse Suchtverhalten aus. Das Auto verleiht Kraft und Macht, ohne Körperenergie zu verbrauchen, und wird so als evolutionärer Vorteil gewertet.

Ein fataler Trugschluss, der zu jenen Strukturen führte, die heute den Autos Vorrang geben – von der Zersiedelung bis hin zu Einkaufszentren auf der grünen Wiese. Knoflacher machte nachvollziehbar klar, dass mehr Geschwindigkeit nicht mehr Mobilität und auch keine Zeitersparnis bringt. Die Zahl der Wege bleibe trotz Motorisierung konstant – es gibt nur eine Verschiebung von einer Verkehrsart zur anderen. Die Wege werden länger, der Sozialraum werde zerstört, die Lebensqualität sinke.

Um zu verdeutlichen, wieviel Platz Autos im öffentlichen Raum beanspruchen, erfand Knoflacher sein „Gehzeug“ – ein tragbares Holzgestell in der Größe eines Mittelklassewagens. Was im Straßenverkehr eingesetzt absurd anmutet, zeigt augenscheinlich, dass Autos ein Vielfaches an Flächenbedarf aufweisen als Fußgänger, Radfahrer oder Öffi-Benützer. Knoflacher plädiert dafür, in den Städten wieder mehr Platz für Menschen zu schaffen – denn die sind es auch, die Konsumieren. „Wer Anreize für mehr Fußgänger schafft, bringt auch mehr Kunden“, ist Knoflacher überzeugt und hält es für falsch, über fehlende Parkplätze vor der Haustür zu jammern: „So ruinieren Sie sich selbst Ihr Geschäft.“ Knoflacher lädt ein, da kreativ zu sein – etwa eine Vergütung ab einer bestimmten Kaufsumme fürs gratis Parken beim nächsten Einkauf.

In seinem 40-minütigen Impulsvortrag outete sich Knoflacher übrigens auch als Fan des Wörgler Freigeldes: Das Wunder von Wörgl sei gewesen, dass das Geld im Ort blieb und nicht wie heute elektronisches Geld weg ist, im „globalen Casino“ verschwindet. Und um heute eine Verhaltensänderung zu bewirken, sieht Knoflacher die Verkehrs- und Stadtplanung als wirksame Instrumente.

Pro und contra Fußgängerzone

Die Wortmeldungen der Publikumsdiskussion brachten den Wunsch nach Umsetzung der Fußgängerzone ebenso zum Ausdruck wie Bedenken. GR Michael Riedhart will die Bahnhofstraße erst attraktiver gestalten, beispielsweise durch Kunst, Gastronomie und Gestaltung des Straßenraumes.  Die Konkurrenz durch M4 und Westend mit hunderten Gratisparkplätzen kam ebenso zur Sprache. „Alle Innenstädte kämpfen mit den Trabanten. Da muss sich zuerst an der Durchzugsstraße was ändern“, lautete eine Wortmeldung. Dem stimmte der Verkehrsexperte auch zu – Kreuzungen umgestalten, Straßen rückbauen, Tempo rausnehmen und ein gutes Parkleitsystem installieren.

„Ich verstehe nicht, warum der Fokus nur auf die Bahnhofstraße gelegt wird. Wörgl braucht ein Gesamtverkehrskonzept – die Fußgängerzone in der Bahnhofstraße ist zu wenig“, meldete sich Architekt DI Markus Moritz zu Wort und wies auf die bevorstehende   städtebauliche Entwicklung im Zentrum hin, die in Verbindung mit der Bahnhofstraße steht. Bgm. Wechner erklärte, dass das man für diesen Abend bewusst die Bahnhofstraße in den Fokus gerückt habe. „Nichts zu machen wäre noch weniger. Ich befasse mich seit 30 Jahren mit der Wörgler Problematik – die Fußgängerzone ist mehr als reif“, meinte dazu Knoflacher und plädierte dafür, neue Siedlungen autofrei zu machen: „Das bringt 20 bis 30 % billigere Mieten.“ Dem steht allerdings die Tiroler Bauordnung im Weg, die aus der Reichsgaragenordnung von 1939 übernommen wurde, damals erstellt zur „Förderung der Motorisierung“. Und so wäre es heute eine „zu 1932 adäquate Leistung, die TBO zu ignorieren“, lautete Knoflachers Aufforderung an die Stadtpolitik.

Mehr Werbung für die Innenstadtkaufleute lautete eine Empfehlung, angesprochen wurden auch die 1.550 gesammelten Unterschriften fürs Schrägparken in der unteren Bahnhofstraße. „Wir brauchen keine 4.000 Autos in der Bahnhofstraße. Da fahren viele nur durch zum Schauen“, sprach sich Franz Sollerer, selbstdeklarierter „begeisterter Wörgler“, für weniger Autos im Zentrum und den Fokus auf eine lebenswerte Stadt aus. „Jede Stadt, die etwas auf sich hält, hat eine Fußgängerzone. Da geht es um Lebensqualität“, ist auch Bahnhofstraßen-Anrainer Günther Feuchtner überzeugt, der mit dem Radclub viel in Innenstädten unterwegs war und ist.

Und was hält Knoflacher davon, eine zeitlich beschränkte Fußgängerzone am Freitag nachmittags und samstags einzurichten? „Das kann man schon machen – aber es ist nur das Hinausschieben einer Lösung“, so Knoflacher. Das „nicht Rollator-freundliche“ Kopfsteinpflaster in der Bahnhofstraße brachte eine Wahlwörglerin und begeisterte VVT-Ticket-Nützerin zur Sprache. Doch daran werde sich in absehbarer Zeit nichts ändern, räumte Bgm. Hedi Wechner ein.

Auf die Frage, wie es denn nun mit dem angekündigten Bürgerbeteiligungsprozess weitergeht, erklärte Bgm. Wechner, dass nun eine eigene Arbeitsgruppe unter der Leitung von Gemeinderat Andreas Schmidt installiert werde, die sich damit befasst. Interessierte können sich schon jetzt bei ihm melden, gewünscht ist die Einbindung von Wirtschaftstreibenden, Kulturschaffenden, Gastronomen und Infrastrukturträgern. „Uns liegt viel am Dialog“, so Wechner. Die Stadt arbeitet derzeit in Zusammenarbeit mit dem Land Tirol an einem neuen Verkehrskonzept, das vor allem eine Verkehrsberuhigung und Belebung der Einkaufsstraße/Bahnhofstraße zum Ziel hat. Am 1. April nachmittags fand vor der vom Wörgler Pressesprecher Mag. Andreas Madersbacher moderierten Auftaktveranstaltung zum Bürgerbeteiligungsprozess ein Workshop mit Prof. Knoflacher samt Stadtrundgang statt, an dem Gemeindemandatare und Stadtamtsmitarbeiter teilgenommen haben.

Bürgerbeteiligung – aber wie?

Offen blieb, wie konkret der angekündigte Bürgerbeteiligungsprozess aussehen wird. Erfahrungen aus der Lokalen Agenda 21 zeigen, dass die richtige Vorgangsweise dabei ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist. Fühlen sich die BürgerInnen ernst genommen oder werten die versprochene „Beteiligung“ nur als Alibi-Aktion?  Bewährt hat sich bei Bürgerbeteiligungsprozessen, dass sie über längere Zeit gehen, von externen, nicht involvierten Personen moderiert werden, zur Ist-Analyse ein Zukunftsszenario mit Lösungswegen dahin behandelt wird und Ergebnisse transparent präsentiert werden. Ein Bürgerbeteiligungsprozess sollte auch allen offen stehen und damit von vornherein auch Bedenken und Kritik umfassend bearbeiten.