Der Freiwirtschaftskongress 1951 in Wörgl

In Wörgl lebt die Erinnerung an das Freigeld-Experiment 1932/33 weiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg  fanden 1951, 1983 und 1996 internationale Geld-Kongresse in Wörgl statt und 2003 gründete sich das Unterguggenberger Institut, das sich seither der Dokumentation und Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Wörgler Freigeld, Komplementärwährung und Währungsdesign heute widmet.

Im Februar 1951 wurde die Marktgemeinde Wörgl per Dekret des Landtages zur Stadt erhoben. Noch vor der großen Stadterhebungsfeier im August tagte im Frühjahr zu Pfingsten 1951 der dritte Internationale freiwirtschaftliche Kongress in Wörgl, ausgerichtet von der der Internationalen freiwirtschaftliche Union mit Sitz in Bern in der Schweiz in Zusammenarbeit mit Lia Rigler-Unterguggenberger, der Tochter des 1936 verstorbenen Wörgler Freigeld-Bürgermeisters Michael Unterguggenberger.  Beim 1. Internationalen Freiwirtschaftlichen Kongress 1923 in Basel war Silvio Gesell noch selbst Vortragender und unter dem Motto „Der Wiederaufbau des Abendlandes“ fand zu Pfingsten 1948 in Basel der 2. Internationale Freiwirtschaftliche Kongress statt.

Der 3. Internationale Freiwirtschaftliche Kongress ging im Astnersaal im Hotel Alte Post über die Bühne und wurde am Samstag, 12. Mai 1951 von Dr. h.c. Hans Bernoulli, Architekt, Stadtplaner und Schweizer Nationalrat, eröffnet. Am 13. Mai leitete Wörgls Bürgermeister KR Martin Pichler die öffentliche Versammlung im Astnersaal ein, bei der an die internationale Bedeutung des historischen Freigeldexperimentes erinnert wurde. Die Überbrückung nationaler Gegensätze durch eine freiwirtschaftliche Außenpolitik war ebenso Thema der Delegiertenversammlung wie der internationale Zahlungsverkehr nach Ablauf des Marshallplanes. Unter den Teilnehmern waren Fritz Schwarz, Werner Zimmermann, der Radiomoderator und Autor Friedrich Salzmann, Nationalrat Werner Schmid aus der Schweiz, Otto Lautenbach und Dr. Hamelbeck aus Deutschland. Zum Abschluss des Kongresses wählten die Delegierten am 14. Mai noch den leitenden Ausschuss der freiwirtschaftlichen Union für die nächsten drei Jahre.

Fritz Schwarz

Zu den Kongressteilnehmern zählte Fritz Schwarz, Geschäftsführer des Schweizer Freiwirtschaftsbundes, Lebensreformer und Politiker (1887-1958). Er war Zeitzeuge des Wörgler Freigeld-Experimentes und verfasste das Buch  „Das Experiment von Wörgl“, das erstmals 1951 zum Kongress in Wörgl ausgeliefert wurde.  Fritz Schwarz galt über 40 Jahre als einer der führenden Vertreter der Freiwirtschaftslehre nach Silvio Gesell mit dem Ziel einer „natürlichen Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“.

Schwarz kam 1887 als 15. Kind einer Emmentaler Bauernfamilie  zur Welt. Nach der Ausbildung zum Lehrer war er bis 1919 als Sekundarlehrer und ab 1917 war er schriftstellerisch tätig, vorwiegend für freiwirtschaftliche Publikationen. 1918 gründeten Fritz Schwarz und Ernst Schneider das Pestalozzi-Fellenberg-Haus als Buchhandlung, Kurszentrum und Verlag, das Schwarz ab Herbst 1919 vollamtlich leitete. Schwarz stand auch an der Spitze des Verbands der Abstinentenvereine der Stadt Bern sowie der Liga für die Menschenrechte und des Coué-Institutes Bern. 1934 – 1958 vertrat er den Schweizer Freiwirtschaftsbund – ab 1946 wirkte er in der Liberalsozialistische Partei der Schweiz (LSPS) im Grossen Rat des Kantons Bern mit. 1936 erfolgte seine Wahl ins Parlament der Stadt Bern.

Werner Zimmermann

Eine besondere Rolle für Wörgl spielte Werner Zimmermann, der über die Zeit des Freigeld-Experimentes hinaus mit der Familie Unterguggenberger befreundet blieb. Ihm verdanken wir einen Augenzeugenbericht über den Arbeiteraufstand 1934 in Wörgl, den er am 15. Februar 1934 unter dem Titel „Blutendes Volk“ (Abschrift siehe unten) an seinen Freund, den Verleger Fritz Schwarz zur Veröffentlichung in der Freiwirtschaftlichen Zeitung gesandt hat.

Werner Zimmermann (1893-1982)  sprach bei der Gedenkfeier der Kongressteilnehmer im Waldfriedhof  am Grab von Michael Unterguggenberger.  Der Schweizer lernte Silvio Gesell, den Begründer der Freiwirtschaftslehre, noch persönlich kennen und war bei der Durchführung des Wörgler Freigeld-Experimentes in der Informationsarbeit eingebunden. So schrieb der Züricher Tagesanzeiger am 17.3.1978, dass Werner Zimmermann „Unterguggenbergers Propagandaminister war und half, die Bevölkerung über die Vorteile aufzuklären.“

Zimmermann war überzeugter Freiwirt, Pazifist, Naturist, Vegetarier und ein Weltenbummler, der die Freiwirtschaftslehre weltweit verbreitete. Während seiner Lehrerausbildung von 1909 bis 1913 begeisterte er sich für Reformpädagogik, Psychoanalyse und die Freiwirtschaft, wurde 1915 Mitglied des neu gegründeten Freiland-Freigeld-Bundes. 1919 und 1920 bereiste er als Wanderarbeiter Nordamerika, versuchte 1923 führende Persönlichkeiten in den USA für die Freiwirtschaftslehre zu gewinnen. 1929 war er in Mittelamerika, hielt Vorträge in den USA und Kanada.1930 bereiste er Hawaii, Japan, Peking, die Mongolei, Shanghai, Hongkong, die Philippinen, Java, Bali, Indien und Palästina. Zimmermann verfasste zahlreiche Schriften, engagierte sich als Mitbegründer der freiwirtschaftlichen Siedlung Schatzacker bei Zürich und half beim Aufbau eines FKK-Geländes am Neuenburgersee.

1934 begründete Werner Zimmermann zusammen mit Paul Enz, Otto Studer und weiteren 13 Personen den WIR-Wirtschaftsring, aus dem 1936 die heute noch bestehende WIR-Bank (https://www.wir.ch/) hervorging. Die Genossenschaftsbank bietet mit dem WIR-Franken ein „weltweit einzigartiges Komplementärwährungssystem an, das seit 1934 eine sinnvolle Ergänzung zum etablierten Geldkreislauf darstellt und  einen wertvollen Beitrag zu einer gesunden Binnenwirtschaft leistet. So stärkt das WIR-System nachhaltig das Rückgrat des wichtigsten Erfolgsfaktors der Schweizer Wirtschaft – die KMU-Betriebe“, erklärt die WIR-Bank, die mit dem WIR-System das stärkste KMU-Netzwerk der Schweiz unterhält.

3. Freiwirtschaftlicher Kongress 1951 in Wörgl. Foto: Unterguggenberger Institut/Lia Rigler

Werner Zimmermann aus der Schweiz – Kongressteilnehmer und über Jahrzehnte befreundet mit der Familie Unterguggenberger.

Werner Zimmermann besuchte Wörgl immer wieder, das letzte Mal nach Aufzeichnungen von  Lia Rigler-Unterguggenberger  von 26. bis 29. Juli 1974. Lia Rigler verdanken wir auch die fotografische Dokumentation des Freiwirtschaftlichen Kongresses 1951 in Wörgl.

Weiterführende Links:

Fritz Schwarz: https://www.sozialarchiv.ch/2017/08/27/der-nachlass-von-fritz-schwarz-im-sozialarchiv/

Das Experiment von Wörgl von Fritz Schwarz – Gratis-Download unter: http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/woergl/alles.htm

Schwarz und Wörgl: https://www.fritzschwarz.ch/woergl.htm

Biografie von Silvio Gesell: https://kritisches-netzwerk.de/sites/default/files/werner_onken_-_silvio_gesell_und_die_natuerliche_wirtschaftsordnung_-_eine_einfuehrung_in_leben_und_werk_1.pdf

 

Abschrift des Berichtes von Werner Zimmermann vom 15.2.1934: 

Titel: Blutendes Volk

(8 Zeilen unleserlich – Papier abgerissen. Hinweis auf Schönwetter)… Wörgl. – Frau Bürgermeister wartet am Bahnhof. Ein zages herzliches Lächeln des Willkomms. Doch schon bricht der Schmerz durch: „Standrecht hobn wir ghobt gestern, gschossen is wordn, mit Maschinengwehrn“ –

Soldaten und Heimatwehr bewachen den Bahnhof. Auf der Dorfstraße stehen und gehen viele Menschen. Sie sprechen leise oder schweigen in sich gekehrt.

„Da rechts ist das Arbeiterheim. Da ist gestern der Kampf losgebrochen. Die Heimatwehr (Hilfspolizei der Regierung, Bauernjungen) wollte das Heim besetzen, obschon dazu kein Anlass vorlag. Einige junge Kämpfer des Schutzbundes (Marxisten) empfanden das als Unrecht und setzten sich zur Wehr. Siebzig Mann Bundestruppen wurden gerufen, und mit der Heimatwehr wollten sie das Arbeiterheim stürmen. Mein Mann hielt sie auf, ging zu den Schutzbündelern und versuchte zu verhandeln. Er sagte ihnen, es handle sich im Augenblick nicht darum, zu entscheiden, wer im Recht und wer im Unrecht sei, bewaffneter Widerstand sei gegenüber solcher Übermacht nutzlos, sie sollten freiwillig ihr Heim räumen. Doch die jungen Leute empfanden es als Feigheit, sich kampflos dem Unrecht zu fügen, war es doch ihr Heim, aus ihren Mitteln aufgebaut – zwar zogen sie nachher doch ab, doch in der Umgebung entbrannte der Kampf. Zehn wurden verwundet, alle überwältigt, nach Innsbruck geführt, und nun kommen sie vors Standgericht.“

Das flüstert sie mir zu, in abgerissenen Einzelheiten; erst daheim, wie wir alle um den Tisch sitzen, rundet sich das Bild.

Der Bürgermeister ist ruhig. Nur gelegentlich bei seinen Berichten wetterleuchtet es in seinen stahlblauen Augen und zuckt es schmerzlich um seinen Mund.

Auch in den umgebenden Orten wurde gekämpft. Die Verzweiflung dieser Menschen ist so leicht zu verstehen. Seit wir gezwungen wurden, unsere Arbeitsbestätigungsscheine zurückzuziehen, haben sich Arbeitslosigkeit und Not bedeutend verschlimmert. Der Staat hat auch kein Mittel mehr, Unterstützungsgelder werden immer mehr herabgesetzt, vielerorts ganz gestrichen – nun, dann treibt eben die Hoffnungslosigkeit zu solch bedauerlichen Taten, die nicht befreien können, die nur noch tiefer ins Unglück führen.

Am Nachmittag werden weitere Gefangene durchs Dorf marschiert, zusammengekettet wie Verbrecher. Die meisten sind allen bekannt, sind rechtschaffene Burschen, doch seit langem arbeitslos, ohne Verdienst und Zukunftshoffnung. Es sind nicht Schmarotzer, die sich an der Not eines Volkes zu bereichern wissen, nicht Gleichgültige, die sich durchs Leben zu stehlen versuchen, nicht Feiglinge, die tatenlos alles Unrecht mit sich geschehen lassen – sind es nicht, wenn auch unklar im Erkennen der Ursachen und der Rettungswege, junge, mutige aufrechte Männer des Volkes, die nicht nur ihr Geld, die sogar ihr Leben einsetzten, um nach ihrer Meinung, unerträglichen Notzuständen ein Ende zu bereiten zu helfen? Und nun gelten sie als Verbrecher und Volksverräter. Nun droht ihnen der Strang.

Der Bürgermeister ist Sozialdemokrat. Seit 1904. Droht auch ihm Gefahr? Er ist ruhig, wie es die Menschen sind, die ein gutes Gewissen, klare Erkenntnis und beherrschten Willen haben. So dürfte ihm auch nichts geschehen:

„Die Leute hier und die Behörden wissen, dass ich wohl Sozialdemokrat bin, dass ich aber nie Marxist war, dass ich, auch in der Partei, stets mich gegen den Marxismus gewehrt habe. Ich bin sozial und demokratisch eingestellt und werde das bleiben. Das schließt jedoch allen Marxismus, allen Kommunismus mit ihrer Diktatur und Gleichmacherei aus. Marxismus ist nicht demokratisch und auch nicht sozial. Darum drehte sich von jeher mein Kampf in der Partei.“

Auch sind die grossen Verdienste des Bürgermeisters Unterguggenberger nicht nur in seiner Gemeinde, sondern auch bei den Behörden anerkannt. Die Revisoren geben unumwunden zu, dass Wörgl seit Einführung der Arbeitsbestätigungsscheine seine Lage deutlich verbessert hat und noch heute den anderen Tiroler Gemeinden als Muster dienen könnte. Solche Leistungen legen in gefährlichen Zeiten Zeugnis ab.

Am Abend nach acht Uhr ist wieder strenge verboten, die Strasse zu betreten. So können die eingeladenen Freunde nicht zu uns kommen (Vortrag war ganz unmöglich geworden). So sponnen wir denn unsere Gedanken, wie die Ungelöstheit der wirtschaftlichen Fragen unweigerlich zu solchen Verhängnissen führt, was noch getan werden könnte und müsste – und dabei versuchen wir, vom Rundfunk Meldungen zu erhaschen über die tatsächliche

„Wir sind ganz Herr der Lage…“

„Es wird, mit einigen Ausnahmen, nicht mehr gekämpft….“

Dann auf einmal wieder:

„Freiwillige werden gesucht und sollen sich melden…“

Und dazwischen trällert immer wieder seichte Walzermusik, werden Minnelieder vorgetragen, machen sich pathetische Zwiegespräche breit –

„Soeben, 21 Uhr 43, verurteilte das Standgericht den Ingenieur (Name wird genannt) von der Feuerwache zum Tode durch den Strang….“

Höchsten drei Stunden Frist wird gewährt – am Nachmittag wurde schon ein Führer gehängt – die Stimme des Rundfunksprechers zittert leicht und klingt gedämpft  – diese Spur Menschlichkeit tut wohl.

Gleich aber folgt wieder tändelnde Tanzmusik – grimme Empörung funkelt in unseren Augen – wir hören Kartätschen und Schüsse, Schreie des Schmerzes und der Wut von Männern, Frauen und Kindern, von eigenen Volksgenossen, die ihr bisschen Hab und Gut verteidigen – und dazu Tanzmusik –

So ist die Welt der Menschen. –

Heute ziehen düstere Wolken am Himmel und umfloren die weissen Berge. So ist es leichter zu ertragen. Im schmucken Gemeindehaus drängen sich die Frauen und vielen Kinder eine Anzahl von fünfzig Verhafteten. Immer wieder würgt sich ihr Schluchzen heraus und stürzen ihre Tränen.

„Wie´n Verbrecher hobn´s ihn weggholt…“, den Gatten, den Vater. Die Gemeindeleiter versuchen sie zu ermutigen, werden sehen, dass die Familien nicht zu hungern brauchen – und im übrigen kann man jetzt nichts weiter tun als warten – warten. –

In der Nebenstube pfeift der jüngste Sohn des Bürgermeisters, ein zehnjähriger Knabe, etwas vor sich hin – nun weiß ich: es ist das Lied von Andreas Hofer. –

Heute aber fließt das Blut des Volkes von eigenen Händen. So weit kommt es, wenn das Geld, das goldene Kalb den Führenden wichtiger ist als Arbeit, Seele und Volk.

Wörgl, 15-2-1934

Lieber Fritz,

verwende das, wie es dir am dienlichsten scheint. Ich fahre heute noch nach wels, morgen nach Wien (dort bin ich wahrscheinlich bis Ende Monat bei Sobotik) und werde von Wien weiteres berichten. Setze Ort und Datum dazu. Ob es der zeitung dient, wenn du mich als „Sonderberichterstatter“ bezeichnest, musst du entscheiden. Auch wie du unterzeichnen willst.

herzlich

Werner

Herzl. Gruß vom B. Utg.berger  (handschrifltich angefügt).