Aufstehen für Gewaltfreiheit – darin übt sich heuer in Wörgl ein weiteres Mal eine ganze Schule. Mit der Tanzperformance „break the chain“ startete am 27. November 2019 der Aktionstag der Bundesfachschule für wirtschaftliche Berufe mit Aufbaulehrgang im Rahmen der internationalen UN-Kampagne „16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen“, bei dem engagierte Schulprojekte zum Thema präsentiert wurden und der renommierte Kinder- und Jugendpsychiater Max Friedrich referierte.
Soziale Kompetenzen der Jugendlichen stärken zählt zu den Bildungszielen der BFW+AL, deren Direktorin Mag. Helga Dobler-Fuchs das große sowohl im Unterricht wie in der Freizeit geleistete Engagement ihrer SchülerInnen lobte, die mit einer ganzen Reihe von Projekten die gesellschaftliche Bedeutung des Themas aufzeigen. Und die Schule reagiert auch mit Unterrichtsinhalten: „Es wurden Unterrichtseinheiten mit Schwerpunkt gewaltfreie Kommunikation, aktives Zuhören und sinnvolle Nutzung von Kommunikationsgeräten – Stichwort Cybermobbing – eingeführt“, so Dobler-Fuchs, die unter den Gästen des Aktionstages Pater Emanuel von der Orthodoxen Kirche ebenso begrüßte wie Wörgls Bürgermeisterin Hedi Wechner, Bildungsdirektorin Andrea Weiskopf und Vertreterinnen der Frauen- und Mädchenberatungsstelle Evita in Kufstein, des Tiroler Frauenhauses sowie des Vereines Frauen gegen Vergewaltigung.
„Ein Viertel unserer Klientinnen beraten wir zum Thema Gewalt“, teilte Evita-Geschäftsführerin Christine Wright-Kainer mit. Der Verein Evita fungierte als Kooperationspartner bei der Ausarbeitung der Schulprojekte und beteiligt sich mit einem „Walk of Violence“: 10 Sterne aus Asphaltfolie informieren im Aktionszeitraum von 25.11.-10.12.2019 vor der Schule über das Thema Gewalt. 2018 wurden von Evita 262 Frauen beraten, die Polizei verhängte im Bezirk Kufstein 80 Betretungsverbote. 19 Frauen und 12 Kinder suchten 2018 Zuflucht in der Frauennotwohnung und Evita übernahm 2019 zehn Prozessbegleitungen. Hilfe rund um die Uhr gibt´s zudem kostenlos unter der Frauenhelpline 0800 222 555.
Hinsehen statt wegschauen – das praktizierten eine Klasse der Fachschule sowie drei Klassen des Aufbaulehrganges bei der Umsetzung der engagierten Projekte. Gewalt und Intoleranz anprangern und das künstlerisch umsetzen, damit befasste sich sie 2A der Fachschule und wurde bei der Anfertigung von Bildern und Skulpturen von den beiden Künstlerinnen Helga Schiegl und Maria Berktold unterstützt. Eine Open-Air-Projektion mit starken Bildern und Worten, die zum Nachdenken anregen sollen, erstellte die 1AL-Klasse des Aufbaulehrganges – die Bilder werden täglich bis 10. Dezember von 17 bis 21 Uhr an die Schulfassade projeziert.
„Gewalt ist nicht an einen Ort gebunden – deshalb entschieden wir uns für die Gestaltung einer Wanderausstellung“, erklärten Schülerinnen der 3AL-Klasse des Aufbaulehrganges, die dafür gründlich recherchierten und mit ihrem Projekt ein Zeichen setzen wollen, „das Schweigen zu brechen – denn es schützt nur die Täter“.
„Frauen stark für Frauen“ wählte sich das Projektteam der 2AL-Klasse des Aufbaulehrganges als Motto und gestaltete dazu ein eigenes Logo, Postkarten und fertigte „Stärkungskekse“ an, die ebenso wie die Postkarten zugunsten des Vereins Evita verkauft werden. Die Kufsteiner Beratungsstelle wird zudem mit dem am Aktionstag gesammelten freiwilligen Spenden unterstützt.
Wie notwendig Zivilcourage und Solidarität mit Opfern von Gewalt ist, machten die Ausführungen des Kinder- und Jugendpsychiaters Univ.-Prof. Dr. Max Friedrich klar. Gewalt hat viele Gesichter, beginnt bei Vernachlässigung und zeigt sich in körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt, an deren Folgen die Betroffenen ein Leben lang leiden. Friedrich gab einen Einblick in seine jahrzehntelange Arbeit und Hinweise fürs Erkennen von Kindesmissbrauch wie auch zur Prävention. Erwachsene sollten hellhörig sein, wenn bei Kindern plötzlich Verhaltensstörungen wie verstummen, schreien, Ängste oder Schlafstörungen auftreten. Das können Signale sein, dass etwas nicht stimmt.
In Gruppenuntersuchungen stellte der Psychiater erschreckend oft körperliche oder psychische Gewalt an Kindern und Jugendlichen fest. Von 1.200 Mädchen und 1040 Burschen bis zum 16. Lebensjahr berichteten drei Viertel von Gewalterfahrungen. „Kinder werden oft gedemütigt, beschimpft, angebrüllt. Zur Misshandlung zählt auch Vernachlässigung – diese Kinder sind anfälliger, Opfer von Tätern zu werden“, so Friedrich.
Friedrich gab Eltern auch Botschaften mit, die sie ihren Kindern vermitteln sollten: „Dein Körper gehört dir. Deine Gefühle sind uns wichtig. Du darfst nein sagen und zuhause über alles reden!“ Dazu gehöre, Körperteile früh zu benennen, mit den Kindern in Kontakt zu sein, mit ihnen zu spielen. Friedrich appelliert für einen liebevollen, angstfreien Umgang mit Kindern, bei dem Erwachsene das Zuhören lernen und auf Signale achten sollen.
„16 Tage gegen Gewalt – und was ist an den 349 anderen Tagen?“ – mit dieser Frage eröffnete Bürgermeisterin Hedi Wechner ihre Grußworte, in denen sie als Ursache für die Gewalt an Frauen und Mädchen einerseits die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frauen von den Männern über Jahrhunderte sowie die strukturelle Diskriminierung der Frauen in den monotheistischen Religionen sieht. Eine Herausforderung heute sei die Integration von Menschen aus Kulturkreisen, in denen Frauen „absolut nichts gelten“.
Der Aktionstag an der Schule bot beim gemütlichen Ausklang mit einem köstlichen, von den SchülerInnen zubereiteten „Flying Buffet“ den Rahmen, die Ausstellungen zu besichtigen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Eine weitere Möglichkeit bietet sich am Tag der offenen Tür an der BFW+AL Wörgl am Samstag, 30. November 2019 von 9 bis 15 Uhr.