Zu einem Perspektivenwechsel lud das Frauennetzwerk Minerva am 26. November 2015 in der Galerie am Polylog in Wörgl. „Gehe hundert Schritte in den Schuhe des Anderen, wenn du ihn verstehen willst“, lautet eine indianische Weisheit, die auf die Texte der Autorin Barbara Hundegger zutrifft. Empathie und Einfühlungsvermögen sind gerade bei Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderung, die Flucht und Migration mit sich bringen, wertvolle Eigenschaften. Einfühlungsvermögen zeigte bei der Lesung unter dem Motto „wo bleiben, wenn dein Land geht?“ auch der Zither-Virtuose Martin Mallaun, der zwischen und zu den Texten mit zeitgenössischer Musik und experimenteller Lautmalerei den passenden musikalischen Rahmen beisteuerte.
Dr. Katharina Moritz vom Frauennetzwerk Minerva dankte einleitend ihrer Vereinskollegin Gerti Ehammer für die Organisation des Abends und der Kulturinitiative Turmwind in Itter für die Idee dazu. Barbara Hundegger, 1963 in Hall geboren, engagierte sich viele Jahre in der autonomen Frauenbewegung und beschäftigt sich beruflich viel mit Sprache – als freie Schriftstellerin ebenso wie als Korrektorin, Lektorin und Redakteurin, u.a. am Institut für Sprachkunst der Universität für Angewandte Kunst in Wien.
Aus Wiener Perspektive stieg die Autorin dann auch in ihren Lese-Abend ein: „Diese Grüß Göttin-Farce aus Tirol wird in Wien als beschämende Provinz-Posse wahrgenommen.“ Hundegger kritisierte die „dumpe Tiroler Gottesmännlichkeit“ und meinte: „Wer keine Göttin verträgt, hat auch im Himmel nichts verloren.“
Eine klare Positionierung, das schätzt Hundegger auch beim schwierigen Thema Flucht und Migration, das sie mit „menschlicher Anteilnahme und Neugier auf das Andere“ angeht. „Profitphrasen- und parolenloses Nachdenken“ sei angesagt. Und dazu gehört für Hundegger auch das kritische Hinterfragen des Tiroler Selbstbildes, etwa in ihrem anlässlich des Tirol 1809-Jubiläums verfassten „Brief an Tirol“. Mit Kritik an Kapitalismus und Leistungswahn unserer Gesellschaft hielt Hundegger auch nicht hinterm Berg. Die Fragwürdigkeit von oberflächlicher Beurteilung spricht aus ihrem Text „Lauter Einser-Kinder“, zu dem eine Zeitungskampagne den Ausschlag gab. Alle Jahre wieder gratulieren die Zeitung und eine Fastfood-Kette mit einem Happy-Meal Erstklasslern mit alles Einsern im Zeugnis. Berührend macht Hundegger klar, wieviele „kindermenschliche Lücken“ solch fragwürdige Werbekampagnen aufwerfen, die sechsjährige Kinder mit anderen Noten abklassifizieren.
Viele Fragen und wenige Antworten – diese Erfahrung aus dem Flüchtlings-Projekt „Der Geschmack der Fremde“ verpackte Barbara Hundegger in den Text „I learned to eat it“, der sich mit der Lage der Ankommenden befasst, ihre Orientierungslosigkeit und Verlorenheit in der neuen Welt anspricht. Ihren bildhauerischen Zugang zur Sprache vermittelte die Autorin mit „Angenommen zugegeben ausgerechnet“ und in unfreiwilliger Komik mündete ihre Bereitschaft, „Frauenfragen“ im Modeteil der „Tirolerin“ zu beantworten, was sie „klassisch elegant“ auf ihre Weise und derart abgrundtief ehrlich tat, dass auf einen Abdruck dann verzichtet wurde.