Der Chiemgauer – eine Erfolgsgeschichte

Warum verwenden Menschen im wohlhabenden Bayern heute ohne wirtschaftliche Not  eine eigene Regionalwährung? Der „Chiemgauer“ gilt als erfolgreichstes Regiogeld im deutschsprachigen Raum, bei seiner Konzeption 2003 war das Wörgler Freigeld Vorbild. Wie er funktioniert und über die Region hinauswirkt, war am 22. Oktober 2019 Thema im Tagungshaus Wörgl.

In den Landkreisen Rosenheim und Traunstein gibt´s ein besonderes Pfand für Regionalität – den Chiemgauer. Die eins zu eins in Euro gedeckte Regionalwährung setzt auf halbjährliche Abwertung um 3 % als Umlaufimpuls und zirkuliert in Form von Gutscheinen ebenso wie digital als Regiocard. Rund 1,9 Millionen Chiemgauer sind in Umlauf und schafften damit 2018 einen Umsatz von 6,2 Millionen. Geld, das auch dem Gemeinwohl dient – bisher wurden aus der Rücktausch-Gebühr über 580.000 Chiemgauer Fördergeld an gemeinnützige Vereine und Initiativen ausbezahlt.

In Zeiten des Internethandels entscheiden sich Menschen bewusst für den regionalen Einkauf und geben ihrem Geld die dazu passende Regel mit: der Chiemgauer schafft damit den 3,25fachen Umsatz vom Euro. Bezahlen kann man damit in rund 530 Unternehmen, darunter seit 2013 auch erneuerbaren Ökostrom bei den Stadtwerken Rosenheim. 80 bis 90 % des täglichen Bedarfes kann mit Chiemgauern eingekauft werden, wobei teilweise auch Mischpreise in Euro und Chiemgauer bezahlt werden.

Wie´s in der Praxis funktioniert, schilderte verständlich ein 2016 gedrehter Dokumentarfilm von Kathrin Latsch von Monneta mit vielen Infos zu Entstehungsgeschichte, Stellungnahmen von regionalen Bankern und Chiemgauer-Unternehmen, die der Motor beim Anwerben neuer Mitglieder sind. Gestartet  vom Chiemgauer-Erfinder Christian Gelleri als Schülerunternehmen der Waldorfschule in Prien am Chiemsee, zog das Regionalgeld bald weitere Kreise und erforderte neue Organisationsformen. Heute ist der Träger die Regios gemeinnützige Genossenschaft und bei der praktischen Abwicklung unterstützt der Chiemgauer-Verein, die Chiemgauer UG und Regionalbüros. Und nicht zu vergessen der selbstlose Einsatz eines Kernteams,  das großteils ehrenamtlich mitarbeitet.

„Das Gestalten von Geld macht Sinn über die Regionalwirtschaft hinaus“, ist Stefan Schütz, 1. Vorsitzender des Chiemgauer Vereins überzeugt, der nach dem Film Publikumsfragen beantwortete. Mit dem Chiemgauer entstehen Freundschaften und ein Miteinander in der Region. Gerechterer Austausch, Gemeinwohlförderung und Unabhängigkeit von internationalen Finanzmärkten sind gewünschte Eigenschaften – und so hätte der Chiemgauer auch das Zeug dazu, als Ersatzwährung in Krisenzeiten zu dienen.

Obwohl der Trend hin zu digitalem Geld geht, verwenden die Chiemgauer nach wie vor Gutscheine mit Nennwerten zwischen einem und fünfzig Euro, ausgestattet mit zehn Sicherheitsmerkmalen und einem Ablaufdatum, an dem alte gegen neue Chiemgauer eingewechselt werden. „Der Chiemgauer ist noch nie gefälscht worden“, teilte Schütz mit und hält den Gutscheinen zu Gute, dass sie auch „offline“ funktionieren. Und sie sind ein handfester Einstieg in die Bewusstseinsbildung über die Funktionsweise von Geld. „Geld hat Eigenschaften und ist kein Naturgesetz. Diese können bei uns basisdemokratisch auch geändert werden“, erklärte Schütz. Die Mitgliederversammlung  – die Mitgliedschaft kostet 30 Euro im Jahr – entscheidet über die Regeln, und so wurde die jährliche Abwertung von 8 auf 6 % verringert.

Einnahmen aus dem Verkauf der Wertmarken und 2 % der Rücktauschgebühr decken Kosten für die Aufrechterhaltung des Systems. Die 5 % Verlust beim Rücktausch von Chiemgauer in Euro tragen vorwiegend Unternehmen. „3 % dafür sind für einen sozialen Zweck – bei Kreditkartensystemen müssen diese Kosten auch getragen werden, ohne Vorteil für die Sozialstruktur der Region“, so Schütz. Und weil sparen mit dem Chiemgauer schlecht möglich ist, wurde vor drei Jahren eine Bürgergenossenschaft gegründet: „Wir nehmen die Energiewende selbst in die Hand“, so Schütz. Auf Einlagen, die eine real gedeckte Wertaufbewahrung darstellen, werden 2 % jährlich an Gewinn ausgeschüttet.

Die Chiemgauer tauschen Erfahrungen auch mit anderen Regionalwährungen in Europa aus. „Der Shooting Star ist derzeit der Sardex auf Sardinien. Er entstand nach der Finanzkrise 2008 in Südsardinien aufgrund wirtschaftlicher Not. Fünf Freunde starteten nach dem Vorbild des Schweizer WIR-Franken ein Kreditnetzwerk unter Unternehmen, das eine Transaktionshöhe von 500 Millionen erreicht hat. Der Sardex ist nur durch Vertrauen gedeckt, ein Eintausch in Euro ist nicht möglich“, berichtete Schütz von seinem Besuch beim Sardex im heurigen Sommer.

Auch in Spanien boomen Regionalwährungen. „In Barcelona wurden von der Stadtverwaltung drei Regionalwährungen installiert“, berichtet Schütz von einem Kongress über soziales Geld vor wenigen Monaten.   „30 % der Sozialhilfe wird in Regiogeld ausbezahlt, die Empfänger können damit in lokalen Geschäften einkaufen. Davon profitieren alle – es lenkt den Konsum, hilft den Bedürftigen und stärkt die Regionalwirtschaft“, schildert Schütz den praktischen Nutzen solcher Zweitgelder, die dort mit EU-Förderungen installiert wurden. „Die Idee der Regionalität ist modern – hier findet derzeit ein Umdenken statt.“

Geld gestalten – demokratisch legitimiert, damit wurde Wörgl während der Weltwirtschaftskrise 1932/33 weltbekannt. Das Wissen aus dem Freigeld-Experiment von damals und die Erfahrungen des Chiemgauers heute zusammenzutragen und Informationen über Komplementärwährungen heute weiterzugeben mit dem Ziel, voneinander zu lernen, ist Inhalt eines EU-geförderten Interreg-Projektes der Euregio Inntal, dessen Träger die Stadtgemeinde Wörgl ist. Unter der Projektleitung von Joanna Egger vom Verein Komm!unity wird in Kooperation mit dem Unterguggenberger Institut und der Regios Genossenschaft im Chiemgau eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur  nachhaltigen Regionalentwicklung gestartet. Diese Veranstaltung wurde vom EU-Programm Interreg Österreich-Bayern im Rahmen des Projekts „5G – GEMEINSAM GRENZÜBERSCHREITEND GELD & GESELLSCHAFT GESTALTEN“ gefördert, das am 5. November 2019 in Wörgl vorgestellt wird.